2010 | 1

Kulturtechnik

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Inhalt

Editorial Lorenz Engell, Bernhard Siegert

»Verklärte Nacht«: der Himmel, der Schatten und der Film Jacques Aumont

Betriebsgeheimnisse der »Pädagogischen Provinz« in Goethes Wanderjahren Eva Geulen

Muybridge/Technology Marta Braun

Digitale Fotografien: Für einen öffentlichen Gedächtnisraum Louise Merzeau

Technologie als Humanwissenschaft André-Georges Haudricourt

Kommentar zu André-Georges Haudricourts: Technologie als Humanwissenschaft Michael Cuntz

Körpertechniken Erhard Schüttpelz

Was ist eine Kulturtechnik? Harun Maye

Elemente architektonischer Medien Wolfgang Schäffner

Türen. Zur Materialität des Symbolischen Bernhard Siegert

Kulturtechniken und Souveränität Cornelia Vismann

Die Hand und die Technik. Eine Fundamentalcheirologie Manfred Schneider

Residual Categories: Silence, Absence and Being an Other Susan Leigh Star

Abstracts

Lorenz Engell, Bernhard Siegert Editorial

Medientheorie und historische Medienwissenschaft sind seit geraumer Zeit dabei, einen Schritt zu tun, der sie hierzulande zumindest teilweise in historische und systematische Kulturtechnikforschung überführt. Die Möglichkeit existiert, dass die Medien als Referenz eines Wissenschaftsparadigmas, das gerade dabei ist, die Forschungs- und Lehrstrukturen dieses Landes zu erobern, sich bereits im Zustand bloßen Nachlebens befinden.

Editorial

Jacques Aumont »Verklärte Nacht«: der Himmel, der Schatten und der Film

Das Kino ist als fotografisches Medium eine Kunst des Lichts. Aber die Beherrschung der Ausleuchtung und die »dunkle« Seite seines Dispositivs haben es sehr früh zur Figuration des Schattens hingeführt und es so auf etwas verwiesen, das seit je zu den Grundvoraussetzungen aller Bildkünste gehört. Die Nacht zu filmen bedeutet aber etwas anderes, denn es bringt die Figuration des Himmels im Zustand der Dunkelheit mit sich. Dies entspricht nicht seiner gewohnten Darstellung. Es bedeutet, sich auf ein singuläres figuratives Projekt einzulassen, das beinahe einen Selbstwiderspruch darstellt. Genau darin demonstriert dieses Projekt die Autonomie des Figurationsprozesses.

Erratum: Im Artikel von Jacques Aumont sind zwei der Bildunterschriften fehlerhaft. Dies betrifft die Abbildungen 1 und 7, die fälschlicherweise auf die Filme NOSFERATU und ELEGIJA IS ROSSII verweisen. Korrekt sind die folgenden Bildunterschriften: Abb. 1: DER BRENNENDE ACKER (D 1922, Friedrich Wilhelm Murnau) Abb. 7: DUCHOWNYE GOLOSA (SPIRITUAL VOICES/STIMMEN DER SEELE, RU 1995, Alexander Sokurow)

»Verklärte Nacht«: der Himmel, der Schatten und der Film

Eva Geulen Betriebsgeheimnisse der »Pädagogischen Provinz« in Goethes Wanderjahren

Seit Rousseau wurde Erziehung immer wieder als eine außerstaatliche Gegenwelt vorgestellt. Dieser Insistenz auf Erziehung als einem autonomen System entgeht, dass die imaginierten Gegenwelten sich nicht nur vom Staat absetzen, sondern ihn tendenziell auch ersetzen sollen. Es gehört zur Eigendynamik des Bildungsbegriffs, der sich seit Rousseau emanzipiert hat, dass unter dem Druck der Separierung zwischen Staat und Erziehung häufig genau jene Staatslogik reproduziert wird, der man im Namen autonomer Bildung etwas entgegenzusetzen glaubt. Der Aufsatz verfolgt diese Eigendynamik anhand der Konzeption einer »pädagogischen Provinz« in Goethes Wanderjahren, die selbst eine Art Miniatur-Staat darstellt, in dem Menschen und Güter in ungeschiedenem Lebenszusammenhang produziert werden.

Betriebsgeheimnisse der »Pädagogischen Provinz« in Goethes Wanderjahren

Marta Braun Muybridge/Technology

Eadweard Muybridges 1887 erschienener Fotoband Animal Locomotion ist eine eigenartige Mischung zwischen wissenschaftlicher und künstlerischer Publikation, ein polysemer Text, der Gegenstand zahlreicher Interpretationen wurde. Der Artikel konzentriert sich auf den technischen Aspekt von Muybridges Arbeit. Er versucht zu verstehen, weshalb der Fotograf eine ganze Batterie von Kameras einsetzte und nicht eine einzelne. Muybrigdes letztes Werk, The Human Figure in Motion (1901), zeigt nach Ansicht der Autorin die Berechtigung dieser Vorgehensweise.

Muybridge/Technology

Louise Merzeau Digitale Fotografien: Für einen öffentlichen Gedächtnisraum

Die Modalitäten der Produktion, Archivierung, Verbreitung und Vergesellschaftung digitaler Fotografie produzieren eine neue Ökonomie der Körper und der Blicke. Wenn digitale Bilder zu Körperoberflächen und Blogs zu agierenden Archiven werden, transformiert sich der öffentliche Gedächtnisraum im Spannungsfeld zweier gegensätzlicher Pole: Privatisierung und Standardisierung des Bild-Gedächtnisses in den Bilddatenbanken großer Agenturen einerseits und rhizomatisches Netzwerk-Gedächtnis andererseits, das im Spiel seiner Verschaltungen zum virtuellen imaginären Museum wird. An diesem Ort partizipieren die digitalen Bilder an der Produktion des politischen Körpers.

Digitale Fotografien: Für einen öffentlichen Gedächtnisraum

André-Georges Haudricourt Technologie als Humanwissenschaft

Die Technologie als die Wissenschaft von den Produktivkräften ist noch weit davon entfernt, als autonome Wissenschaft anerkannt zu sein und den Rang einzunehmen, der ihr zusteht.
Konsultieren wir die Enzyklopädie Larousse, so lesen wir dort, dass die Technologie die Wissenschaft von den Handwerken und Gewerben im Allgemeinen sei: Sie verwende gleichermaßen die Methoden der physikalischen Wissenschaften, die sich mit der unbelebten Materie, wie der Naturwissenschaften, die sich mit dem Leben beschäftigen; sie erstelle zunächst eine möglichst fein diff erenzierte Klassifi kation der Produkte sowie der Methoden, die zu deren Entwurf und Erzeugung verwendet werden, sodann beschreibe sie diese mit großer Genauigkeit und unternehme zuguterletzt eine kritische Untersuchung eines jeden Verfahrens, wobei sie die Gesetze der mathematischen Disziplinen, der Physik und der Chemie einsetze. …

Technologie als Humanwissenschaft

Michael Cuntz Kommentar zu André-Georges Haudricourts: Technologie als Humanwissenschaft

1964, das Jahr in dem André-Georges Haudricourt seinen programmatischen Text »La technologie, science humaine« in der marxistischen Zeitschrift La Pensée publiziert, ist nicht irgendein Jahr in der Geschichte der Kulturtechnikforschung. Haudricourts eher lapidaren Ausführungen stehen zwei opera magna gegenüber. Denn es ist vor allem das Jahr, in dem Marshall McLuhans Understanding Media und Technique et langage, der erste Band von André Leroi-Gourhans Summa Le geste et la parole, erscheinen. …

Kommentar zu André-Georges Haudricourts: Technologie als Humanwissenschaft

Erhard Schüttpelz Körpertechniken

Der Beitrag rekonstruiert das Konzept der Körpertechniken von Marcel Mauss: die sozialanthropologische Grundlage, die techniktheoretische Stellung und das systematische Programm dieses Begriffs. Ausgehend von Mauss lassen sich die modernen Körpertechniken und ihre Medienerfindungen einer doppelten Lesart unterziehen: als Strategien einer Reduktion des Körpers und als Projekte einer wechselseitigen psychosomatischen, rituellen und medialen Intensivierung

Körpertechniken

Harun Maye Was ist eine Kulturtechnik?

Kulturtechniken sind Praktiken, die an der Konstitution von Kulturen und Kollektiven beteiligt und durch Medien und Erziehung vermittelt sind. Das Konzept ist nicht auf die sogenannten elementaren Kulturtechniken (Lesen, Schreiben, Rechnen) beschränkt, sondern beinhaltet auch Techniken des Körpers, Repräsentationsverfahren und andere Techniken der Hervorbringung. Im Gegensatz zu einem pädagogischen Verständnis von Kulturtechniken geht es der medienwissenschaftlichen Kulturtechnikforschung nicht um die Vermittlung von Hochkultur, Bildung oder Kunst, sondern ganz grundsätzlich um die Analyse von kultureller Kommunikation, insofern sie als technisches Verfahren beschrieben werden kann.

Was ist eine Kulturtechnik?

Wolfgang Schäffner Elemente architektonischer Medien

Der Artikel versucht Architektur als räumliches Medium zur Übertragung, Verarbeitung und Speicherung von Informationen, Objekten und Personen zu analysieren. Damit wird der architektonische Raum nicht nur zu Effekten dieser medialen Operationen, sondern er modelliert und materialisiert zugleich diese Prozesse. Die Öffnung wird dabei als Grundelement architektonischer Medien beschrieben. Auch so klassische Elemente wie Fenster und Türen erhalten in diesem Zusammenhang im Sinne eines Raums als perforierte Membran eine neue mediale Qualität.

Elemente architektonischer Medien

Bernhard Siegert Türen. Zur Materialität des Symbolischen

Türen sind Medien der Architektur als einer elementaren Kulturtechnik, weil sie die Leitdifferenz der Architektur, die Differenz von innen und außen, prozessieren. Die Tür ist eine Maschine, durch die das Symbolische in der Architektur materialisiert war. Der Beitrag beschreibt anhand von Beispielen aus der Kultur-, Literatur- und Kunstgeschichte die nomologischen, epistemischen und sozialen Aspekte und Paradoxien der Tür als analoges und binärlogisches Medium. Mit der Abschaffung der Türklinke durch die Erfindung der Dreh- und automatischen Schiebetür verabschiedet sich um 1900 die Tür vom Menschen und wird zu einer biopolitischen Maschine, die den Menschen nicht mehr als persona adressiert, sondern als Störgröße verarbeitet.

Türen. Zur Materialität des Symbolischen

Cornelia Vismann Kulturtechniken und Souveränität

Der Text zeichnet eine Theorie der Kulturtechnik nach, die Kultur beim Wort nimmt und dem Wort colere die Techniken der Kultivierung abgewinnt. Kulturtechniken weisen immer einen Bezug zur Ordnung des Symbolischen auf, aber sie errichten die symbolische Ordnung nicht nur, sie widerstreiten ihr auch. Schließlich stellen die Dinge, Operatoren und Medien der Kulturtechniken die Annahme eines souveränen Subjekts in Frage, das die für die Kultur konstitutiven Prozesse meistert. Das Recht ist herausgefordert, auf diesen Einbruch klassischer Souveränitätslehren zu reagieren und Dinge und Medien einen anderen Platz als den eines bloßen Mittels zum rechtlich sanktionierten Zweck einzuräumen.

Kulturtechniken und Souveränität

Manfred Schneider Die Hand und die Technik. Eine Fundamentalcheirologie

Der Kirchenvater Gregor von Nyssa feierte noch die Evolution der Hand als Geschenk an Mund und Lippen: Von der tierischen Fron des Nahrungserwerbs freigestellt, kann sie sich ganz dem Dienst der Sprache und Rationalität widmen. Die Moderne ging nun daran, die Hand in einem wachsenden Maschinenpark zu entlasten. Das Glück darüber ist aber gedämpft. Wenn die Hand nicht mehr dem Mund, sondern den Maschinen dient, geht damit nicht auch der Kontakt zum Menschsein selbst verloren? In auffälliger Insistenz wehrt die Moderne den Sturm der Technik, der Evolution und der Animalität auf das humane Privileg mit Meditationen über die Schicksale der Hand ab.

Die Hand und die Technik. Eine Fundamentalcheirologie

Susan Leigh Star Residual Categories: Silence, Absence and Being an Other

Restkategorien/Residualkategorien wie »keiner (anderen) Kategorie zugeordnet« sind in modernen Informationssystemen nicht nur zahlreich, sondern sie umfassen außerordentlich viele Elemente. Dieser Beitrag unterscheidet grob zwischen statistischen und ereignisbasierten Überwachungs- und Mitteilungssystemen und beschreibt die jeweils in ihnen vorkommenden Restkategorien. Die Autorin untersucht, inwieweit diese die moralische Ordnung innerhalb der informationellen Infrastruktur beeinflussen. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Einbeziehung lebendiger Erfahrung dabei helfen könnte, der Gefahr eines »moralischen Stillstands« zu begegnen, dem man in großen Informationssystemen heute oft begegnet