2014 | 2

Synchronisation

Nichts ist so aktuell wie die Gegenwart; gegenwärtig sein aber heißt gleichzeitig sein mit etwas anderem, und diese Gleichzeitigkeit muss immer eigens durch geeignete Operationen der Übertragung, der Überbrückung, der Abstimmung und ihre Werkzeuge hergestellt werden. Mit der Gemachtheit der Zeit kommen nun unabweisbar Medien und Medienoperationen ins Spiel. Ihr Gegenwartsverhältnis ist ein doppeltes. Medien leisten und erzielen einerseits Synchronisierung. Das sind zuallererst, aber keineswegs ausschließlich, alle Uhren, aber auch alle Massenmedien, Beobachtungs- und Überwachungsmedien, Taktgeber und Metronomen sowie Steuerungs- und Übertragungsmedien. Andererseits setzt das Funktionieren derselben Medien die Operation der Synchronisierung medialer Operationen immer schon voraus, die Abstimmung der technischen Aggregate und Programme nach Takt und Frequenz. Medien sind der Synchronisierung als deren Agenten ebenso ausgesetzt, wie sie sie hervortreiben, sie erfordern sie, wie sie sie erzeugen. In Bezug auf Synchronisierungsoperationen ist beispielsweise die Geschichte der Zeitmessung selbst ein auf vertrackte Weise rekursives Phänomen. Denn in der Geschichte kann selbst eine Synchronisierungsleistung des Asynchronen, des Gegenwärtigen mit dem Vergangenen nämlich, gesehen werden. Je nach Perspektive wirkt darin aber auch eine De-Synchronisierung der Gegenwart durch die Abtrennung der historischen Vergangenheit, die, anders als die Zeit des Rituals oder der Tradition, ins Ab- und Ausgeschlossene verwiesen wird.

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Inhalt

Editorial Lorenz Engell, Bernhard Siegert

Von Ganzheiten zu Kollektiven. Wege zu einer Ontologie sozialer Formen Philippe Descola

Im (Raum) sein: streuen – erstrecken – zerstreuen. Zu einer Medienökologie des Relationsraums Petra Löffler

Anwesend/Abwesend. Formen der Präsenz in der Mikrophonie Daniel Gethmann

Debatte: Anthropozän Christian Schwägerl, Reinhold Leinfelder, Niels Werber

Das Théâtre Robert-Houdin (1845 – 1925) Georges Méliès

Kommentar zu Georges Méliès’ Le Théâtre Robert-Houdin (1845–1925) Katharina Rein

Phänomene, Probleme und Aktanten der Gleichzeitigkeit – eine sozial- und medientheoretische Skizze Andreas Ziemann

Längengrade und Gleichzeitigkeit in der Philosophie, der Physik und Imperien Bernhard Siegert

Jahresrechnung und Organisation. Von der Verfassungsphantastik zur technischen Chronologie bei Karl Dietrich Hüllmann Anna Echterhölter

Sync Sound/Sink Sound. Audiovision und Synchronisation in Michael Snows - Rameau’s Nephew by Diderot (Thanx to Dennis Young) by Wilma Schoen Jan Philip Müller

Impossible synchronization. Temporal coordination in the risk society Elena Esposito

Abstracts

Lorenz Engell, Bernhard Siegert Editorial

Nichts ist so aktuell wie die Gegenwart; gegenwärtig sein aber heißt gleichzeitig sein mit etwas anderem, und diese Gleichzeitigkeit muss immer eigens durch geeignete Operationen der Übertragung, der Überbrückung, der Abstimmung und ihre Werkzeuge hergestellt werden. So schlicht erklärt sich die grundlegende und aktuelle Relevanz des Themas der Synchronisierung ebenso wie seine kulturtechnische und medienphilosophische Ausformung.

Editorial

Philippe Descola Von Ganzheiten zu Kollektiven. Wege zu einer Ontologie sozialer Formen

Im Anschluss an die Methoden der strukturalen Anthropologie und an Bruno Latour diskutiert der Beitrag Gesellschaften nicht als Ganzheiten Durkheimscher Prägung, sondern als Kollektive. Entlang der basalen Dualität zwischen materiellen Prozessen (Körperlichkeit) und mentalen Zuständen (Innerlichkeit) werden dabei vier Haupt-Ontologien sozialer Formen vorgestellt, in denen die beiden Achsen jeweils spezifische Kontinuitäten und Differenzen zwischen Menschen und Nichtmenschen eines Kollektivtyps regeln: Animismus, Totemismus, Naturalismus und Analogismus.

Von Ganzheiten zu Kollektiven. Wege zu einer Ontologie sozialer Formen

Petra Löffler Im (Raum) sein: streuen – erstrecken – zerstreuen. Zu einer Medienökologie des Relationsraums

Relationale Räume sind veränderliche Gefüge, die eine Ordnung des Koexistierenden etablieren. In ihnen sind Kräfte der Streuung wirksam, die Lagebeziehungen und Nachbarschaften ausbilden. Der Beitrag entwirft ausgehend vom philosophischen Konzept des Relationsraums eine Medienökologie der Koexistenz, des gleichzeitigen Nebeneinanders des Zerstreuten, und zielt auf eine Ethik und Ästhetik der Verteilung. Ausgehend von Martin Heideggers fundamentalontologischer Setzung einer »ursprünglichen Streuung des Daseins« und deren poststrukturalistischen und philosophischen Kritik werden Konzepte variabler Relationsräume und Regime der Zerstreuung diskutiert.

Im (Raum) sein: streuen – erstrecken – zerstreuen. Zu einer Medienökologie des Relationsraums

Daniel Gethmann Anwesend/Abwesend. Formen der Präsenz in der Mikrophonie

Die mediale Ausprägung neuartiger stimmlich-akustischer Präsenzformen stellt die Radiotheorie von Karl Würzburger im Jahre 1932 unter den Begriff der Mikrophonie. Im Durchgang durch das Mikrophon erfahren hier übertragene Medienstimmen eine ubiquitäre Verbreitung, die in einem Spiel mit An- und Abwesenheitseffekten von Körpern und Stimmen die Entwicklung spezifisch radiophoner Sprechformen fördert.

Anwesend/Abwesend. Formen der Präsenz in der Mikrophonie

Christian Schwägerl, Reinhold Leinfelder, Niels Werber Debatte: Anthropozän

Die Hypothese eines neuen Erdzeitalters, des »Anthropozän«, wird seit ihrer Postulierung durch den Chemiker und Nobelpreisträger Paul Crutzen im Jahr 2000 intensiv diskutiert. Der Beginn des Anthropozän wird zumeist um 1800 datiert und in einen Zusammenhang mit der Industrialisierung gestellt. Seither, so die These, ist die Menschheit zu einer quasi geologischen Kraft und sind menschliche Infrastrukturen zum wichtigsten Einflussfaktor auf die biologischen, geologischen und atmosphärischen Prozesse auf der Erde geworden. Christian Schwägerl und Reinhold Leinfelder führen in ihrem Beitrag Argumente und Beispiele für die langfristigen Veränderungen und für die »Reorganisation des gesamten Erdsystems« an, welche die These vom Anthropozän und der »menschgemachten« Erde stützen. In ihrem Beitrag widersprechen sie dem vorschnellen Eindruck, es handle sich bei der Idee einer neuen geologischen Erdepoche nur um einen neuen Sammelbegriff für all das, was als Umweltproblem gilt. Vielmehr betonen die Autoren auch das Potential des Menschen und seiner Technologien zur positiven Gestaltung seines Lebensraums und zur Transformation der Erde. Sie verstehen das Anthropozän nicht nur als rein physische Zustandsbeschreibung, sondern auch als gesellschaftliche Herausforderung und als Forschungsauftrag. Niels Werber setzt in seinem Beitrag an der Frage der notorischen Epochenbildung um 1800 an und kritisiert, dass der Anthropozän-Diskurs sich allein auf die vermeintliche Evidenz naturwissenschaftlicher, vor allem geologischer Daten und Zahlen verlassen würde und ausgerechnet für die Plausibilisierung des Zeitalters des Menschen Kenntnisse über den Menschen, seine Sozialordnung und Kultur offenbar nicht nötig seien. Stattdessen fordert Werber im Anschluss an Niklas Luhmann dazu auf, die Anthropozän-Hypothese als einen Beitrag zur »Selbstbeschreibung der Gesellschaft«, das heißt zur Beschreibung der Einfügung des Menschen und seiner Gesellschaft in die Welt zu verstehen.

Debatte: Anthropozän

Georges Méliès Das Théâtre Robert-Houdin (1845 – 1925)

  1. Die fantastischen Abende des Robert-Houdin Mit der neu gezogenen Schneise des Boulevard Haussmann ist nun endgültig das Gebäude verschwunden, das an der Nummer 8 des Boulevard des Italiens gelegen war und in dem sich seit 73 Jahren das Théâtre Robert-Houdin befand, das so viele Generationen von Kindern beglückt hatte. Es ist eine Berühmtheit des alten Paris, die sich nun ihrerseits im Nichts auflöst. …
Das Théâtre Robert-Houdin (1845 – 1925)

Katharina Rein Kommentar zu Georges Méliès’ Le Théâtre Robert-Houdin (1845–1925)

Georges Méliès wird in erster Linie als Filmemacher gewürdigt, genauer: aufgrund seiner Pionierleistungen im Bereich filmischer Spezialeffekte. Weniger Beachtung findet seine Betätigung als Zauberkünstler – meist nur am Rand erwähnt, wird sie häufig als eine Art ›Vorspiel‹ zu seinem filmischen Schaffen gehandelt. Tatsächlich weist vieles darauf hin, dass die Kinematographie nur eines unter Méliès’ vielfältigen Betätigungsfeldern als Unterhaltungskünstler war – neben dem Varieté, dem Automatenbau, dem Karikaturenzeichnen, der Kulissenmalerei und insbesondere der Zauberkunst, der er sich die längste Zeit seines Lebens widmete. …

Kommentar zu Georges Méliès’ Le Théâtre Robert-Houdin (1845–1925)

Andreas Ziemann Phänomene, Probleme und Aktanten der Gleichzeitigkeit – eine sozial- und medientheoretische Skizze

Der Aufsatz rekonstruiert im ersten Teil sozialphänomenologische Beschreibungen der leibfundierten Erfahrung von Gleichzeitigkeit. Abstrakte Zeitvorstellungen und Zeitkategorien sind dem nachgeordnet und werden mittels Sprache objektiviert. Im zweiten Teil wird mit Bezug auf die soziologische Systemtheorie die Perspektive umgedreht und diskutiert, ob Gleichzeitigkeit nicht vielmehr ein nachrangiger Modus sozialer Beziehungen sowie des inneren Bewusstseinsstroms ist und grundlegend auf Welterfahrung und Techniken der Uhrenkoordination respektive Isochronie beruht. Abschließend wird untersucht, wie moderne elektronische Massenmedien, insbesondere das (Live-)Fernsehen, weltweite Synchronisation herstellen und diese eigenständig manipulieren.

Bernhard Siegert Längengrade und Gleichzeitigkeit in der Philosophie, der Physik und Imperien

Die Einführung von Längengraden auf den Weltmeeren wurde vom 16. bis ins 18. Jahrhundert als die größte wissenschaftliche Herausforderung angesehen. Der Beitrag skizziert ihren Einfluss auf die Erschaffung des Britischen Imperiums, die Physik, und die frühe Philosophie Martin Heideggers. Vor dem Hintergrund dieser Geschichte wird eine historische Ontologie der Uhr entwickelt. Während die Uhr im Mittelalter eine Maschine war, wurde sie in der frühen Moderne zum Instrument und im 19. und 20. Jahrhundert zum Medium. Als Medium des Daseins ist die Uhr nicht nur ein ontisches Zeitmessgerät, sondern auch ein ontologisches Ding, das dem Dasein sein eigenes technisches Wesen zugänglich macht.

Längengrade und Gleichzeitigkeit in der Philosophie, der Physik und Imperien

Anna Echterhölter Jahresrechnung und Organisation. Von der Verfassungsphantastik zur technischen Chronologie bei Karl Dietrich Hüllmann

Die Chronologie bildet sich Anfang des 19. Jahrhunderts als historische Subdisziplin heraus. Am Beispiel eines Entwurfs von Karl Dietrich Hüllmann, einem vergessenen Vorläufer der Volkswirtschaftslehre, werden kulturelle und gesellschaftliche Synchronisationseffekte verfolgt. Abweichend von den Lehrmeinungen seiner Zeit, begründet Hüllmann überraschenderweise den Ursprung des Staats mit der Zeitrechnung. Er gewinnt mit der technisch erzeugten Chronologie ein Argument, das er in Konkurrenz zu naturhistorisch fundierten Vertragstheorien treten lässt.

Längengrade und Gleichzeitigkeit in der Philosophie, der Physik und Imperien

Jan Philip Müller Sync Sound/Sink Sound. Audiovision und Synchronisation in Michael Snows - Rameau’s Nephew by Diderot (Thanx to Dennis Young) by Wilma Schoen

Michael Snows »talking picture« »Rameau’s Nephew […]« (1974) entwickelt eine – laufend aus den Fugen geratende – Taxonomie audiovisueller Verhältnisse des Tonfilms. Der Beitrag durchstreift diesen Experimentalfilm, indem er drei Motive – Übersetzung, Fläche, Wasser – nachverfolgt, an denen Tonfilm erprobt, reflektiert und erfahrbar wird. Dabei kristallisiert sich in Umschlagsmomenten zwischen technischer Bild-Ton-Synchronisation und »Synchresis« (Michel Chion) – irreduzibel audiovisuelle Synthese der Wahrnehmung – ein kritischer Punkt des Mediums Tonfilm heraus. Synchronisation ist von solchen Momenten aus als Prozess zu verstehen, in dem Potenziale von Homogenisierung und Heterogenisierung verteilt und aufeinander bezogen werden.

Sync Sound/Sink Sound.

Elena Esposito Impossible synchronization. Temporal coordination in the risk society

Unsere Gesellschaft wird oft als eine Gesellschaft der Ungleichzeitigkeit verstanden und diskutiert – eine Problematik, die zweifellos mit einer weitverbreiteten Verstörung in der heutigen Gesellschaft korrespondiert. Sowohl auf einer persönlichen Ebene als auch in kommunikativen Kontexten hat man oft den Eindruck eines Mit- und Gegeneinanders verschiedener Rhythmen, Zeithorizonte, Dauern und Enden, deren Ergebnis gewöhnlich eine Art Druck und ein Gefühl der Unzulänglichkeit sind. Es scheint mir aber, dass die Schwierigkeiten, denen wir uns zu stellen haben, nicht so sehr von unserer Verbundenheit mit einer Kultur (oder einer Vermischung von Kulturen) der Ungleichzeitigkeit abhängen: Solche Kulturen haben bereits existiert, wir können sie beschreiben und ihre Zeitverhältnisse rekonstruieren, und doch haben sie nicht die Desorientierung erfahren, die uns heute quält. Im Gegenteil: Die heutigen Schwierigkeiten entspringen einer Kultur der Gleichzeitigkeit, die Probleme der Synchronisierung und komplexe Zeitverhältnisse mit sich bringt, mit denen wir immer noch nicht adäquat umgehen können.

Impossible synchronization. Temporal coordination in the risk society