Heike Delitz Ehem. Senior Fellow

Heike Delitz
Oktober 2014 - März 2015

Vita

Heike Delitz, Jahrgang 1974, studierte erst Architektur und anschließend Soziologie und Philosophie an der Technischen Universität Dresden. 2005 bis 2008 war sie Assoziiertes Mitglied des Internationalen Graduiertenkollegs 625 “Institutionelle Ordnungen, Schrift und Symbole/Ordres institutionnels, écrit et symboles” der TU Dresden und der E.P.H.E. Paris. 2009 promovierte sie dort sowie am Lehrstuhl für Soziologische Theorie, Theoriegeschichte und Kultursoziologie (Karl-Siegbert Rehberg) mit der Arbeit “Architektur als Medium des Sozialen”. 2008 bis 2012 war H. Delitz zunächst akademische Mitarbeiterin und anschließend Stipendiatin der Universität Bamberg sowie der „Bayerischen Eliteförderung“, angebunden an die Lehrstühle Soziologie II (Soziologische Theorie) und Philosophie II (Praktische Philosophie), mit ihrem Forschungsprojekt zu den „Bergson-Effekten im französischen soziologischen Denken. Aversionen, Attraktionen und ein Paradigma soziologischer Theorie“. 2013 erhielt sie dafür die venia legendi für “Soziologie”. Seither ist sie Privatdozentin an der Universität Bamberg, Lehrstuhl für Soziologie II (Soziologische Theorie). Im Sommersemester 2014 war sie Vertretungsprofessorin für Soziologische Theorie am Max-Weber-Institut für Soziologie der Universität Heidelberg.

Stand: 2015

IKKM Forschungsprojekt

Architekturen weben mit am Stoff, aus dem die Gesellschaft ist. Keineswegs sind diese Artefakte, ist diese Kulturtechnik eine bloße 'Reflexion', der nur sekundäre 'Ausdruck', die 'Spiegelung' der sowieso schon vorhandenen Gesellschaft. Sie sind deren aktive Hervorbringer, und dies in vielfältiger Hinsicht und bemerkenswerter Differenz. Das Forschungsprojekt zielt insgesamt auf die Erstellung eines anthropologischen Tableaus, einer kulturenvergleichenden Matrix der Weisen, in denen sich Kollektive architektonisch konstituieren oder 'imaginär instituieren' (C. Castoriadis): als je spezifische Gesellschaften mit diesen sozialen Teilungen (Generationen, Geschlechter, Funktionen, Schichten, etc.), diesen Verhältnissen zur Natur sowie zur Technik, diesen außenpolitischen, religiösen, ökonomischen Eigenheiten, diesen sozialen Imaginationen ihrer selbst, diesen Institutionen des 'sozialen Körpers'.

Während des Fellowships am IKKM konzentriere ich mich auf den Vergleich von infrastrukturierten, städtischen Gesellschaften - die sich mit ihrer 'schweren' architektonischen Aktivität im Boden fixieren, einen 'gekerbten Raum' (Deleuze/Guattari) schaffen - mit mobilen, nomadischen Gesellschaften, die sich mittels ihrer genähten (gewebten, gefilzten, geflochtenen) Architektur und deren Materien permanent bewegen, dabei einen 'glatten Raum', spezifische soziale Beziehungen, Subjektformen, Imaginationen des Kollektivs hervorbringend.

Das interdisziplinär angelegte Projekt geht davon aus, dass Artefakte sozial 'aktiv' sind. Dabei haben die architektonischen, innerarchitektonischen und infrastrukturellen Artefakte im Vergleich zu anderen Medien eine Eigenlogik, eine eigene Materialität, eine eigene Präsenz - im permanenten Bezug zum Körper, im 'Gefüge', den sie mit den menschlichen und nichtmenschlichen Körpern bilden, in der Beanspruchung des Visuellen und Taktilen. Das Projekt teilt auch die Sozialtheorie der 'neuen' sozialen Ontologien, die Offenheit in der Frage, wer oder was je socius (lat. Gefährte) ist: In einigen Gesellschaften zählen architektonische Artefakte zu den socii, deren soziale Beziehungen es zu pflegen gilt - in anderen hingegen (z.B. den 'anthropistischen', R. Seyfert) keineswegs.

Inwiefern geht es um sozietale 'Operationen des Rahmens und Nähens'? Architektur kann generell als soziale Aktivität des 'framing' (B. Cache) definiert werden, wobei die Materien ihr eigenes Werden mitbringen, ihre eigene Affektivität, ihre eigene Art der Formannahme und der Benutzbarkeit, was Unterschiede der Gestalt des sozialen 'Körpers' wie auch der Perzeptionen und Affektionen der Einzelnen zur Folge hat. In vielfacher Hinsicht unterscheiden sich hier insbesondere 'genähte', mobile von 'gebauten', fixen Architekturen.

Der Gesellschaftsvergleich setzt insgesamt an der Beziehung der Architektur zur Erde, zum Boden an, samt den dabei gewählten Materien und ihren Effekten. Es macht einen Gesellschafts-Unterschied, ob ein Kollektiv sich mittels gebauter, schwerer, harter Infrastrukturen und Gebäude im Boden fixiert (fixierte Gesellschaften) oder ob es sich mittels einer leichten, mobilen, gewebten oder genähten Architektur aus Häuten, Filzen oder Wolle als Gesamtkollektiv in permanenter Bewegung hält (Gesellschaften der Zelte). Es macht weiter einen Gesellschaftsunterschied, ob sich Kollektive urban konzentrieren (Gesellschaften der Städte), was ausgedehnte Infrastrukturen impliziert, oder sich gezielt ‚zerstreuen‘ (Gesellschaften am ‚Nullpunkt der sozialen Integration‘, Ph. Descola für die Achuar); ob sie Hochbau oder aber Tiefbau betreiben (sich eingrabende Gesellschaften, Yao Dong im chinesischen Lößland). Ausgehend vom Bodenbezug und mittels idealtypischer Fälle analysiert, werden vier konträre Weisen sichtbar, in denen sich Kollektive mittels ihrer architektonischen und infrastrukturellen Artefakte als Gesellschaft imaginär instituieren, ihre Einzelnen einteilen und anordnen. Methodisch spannt sich so ein Tableau auf, von dessen Ecken aus sowohl hybride sozio-architektonische Konstellationen (z.B. halbnomadische Kollektive) als auch vielfältige historische Transformationen verortet und in ihren sozietalen Effekten verstanden werden können.

Publikationen

Monographien

Bergson-Effekte. Aversionen und Attraktionen im französischen soziologischen Denken, Weilerswist: Velbrück 2014 (im Druck)
Gebaute Gesellschaft. Architektur als Medium des Sozialen, Frankfurt/M., New York: Campus 2010

Artikel

»Eines Tages wird das Jahrhundert vielleicht bergsonianisch sein ...«, in: Joachim Fischer/Stephan Moebius (Hg.): Kultursoziologie im 21. Jahrhundert, Wiesbaden 2014, 43-51.
Gilbert Simondons Ontologie, philosophische Anthropologie und Gesellschaftstheorie. Ein 'recht verstandener' Bergsonismus, in: Gérard Raulet/Guillaume Plas (Hg.), Philosophische Anthropologie nach 1945. Rezeption und Fortwirkung, Nordhausen 2014, 277-302.
»Die zweite Haut des Nomaden«. Zur sozialen Effektivität nicht-moderner Architekturen, in: Peter Trebsche/Nils Müller-Scheeßel/Sabine Reinhold (Hg.), Der gebaute Raum. Bausteine einer Architektursoziologie vormoderner Gesellschaften. Tübinger Archäologische Taschenbücher, Münster u.a. 2010, 83-106.
Gesellschaften der Städte und Gesellschaften der Zelte. Zur politischen Effektivität der Architektur, in: Ernst Seidl (Hg.), Politische Raumtypen. Zur Wirkungsmacht öffentlicher Bau- und Stadtstrukturen im 20. Jahrhundert, Göttingen 2009, 15-34.