Martin Stingelin Ehem. Senior Fellow

Martin Stingelin
April - September 2013

Vita

Martin Stingelin, born 1963 in Binningen, Switzerland, is Professor of Modern German Litera-ture at the University of Dortmund since 2006. Having studied German Philology, Modern German History and General History of the Middle Ages in Basel, Stingelin was a research assistant in Modern German Literature at the University of Basel from 1991 to 1998. In 1995, he earned his Ph.D. with a dissertation entitled „‘Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs‘. Friedrich Nietzsches Lichtenberg-Rezeption im Spannungsfeld zwischen Sprachkritik (Rhetorik) und historischer Kritik (Genealogie)“. From 1998 to 2001, he held a fellowship for advanced researchers by the Schweizerische Nationalfonds. Stingelin was ap-pointed Professor of Modern German Literature in 2001 at University of Basel. In 2010, he was a Visiting Professor at the University of Parma. He directs the SNF-funded editorial pro-ject “Der späte Nietzsche” and the, equally SNF-funded, research project “Zur Genealogie des Schreibens. Die Literaturgeschichte der Schreibszene von der Frühen Neuzeit bis zur Gegen-wart.“ Within this context, Martin Stingelin is currently working on a project that traces the relation between politics and the process of writing, since a cultural history that acts on the assumption of a politically motivated “Schreibszene” is still to be formulated.

Stand: 2013

IKKM Forschungsprojekt

Die Schreibszene als politische Szene. Zum historischen und systematischen Ver-hältnis zwischen dem Schreiben und dem Politischen Keine Staatsgründung ohne Verfassung (im doppelten Wortsinn von ‚Verfassen‘), keine Gesetze ohne Schrift, keine Verwaltung ohne Papiere, keine demokratische Öffentlichkeit ohne Publizität, keine Revolution ohne Manifest – und doch gibt es bisher keine Kulturgeschichte des praktischen Verhältnisses zwischen dem Schrei-ben und dem Politischen. Methodischer Ausgangspunkt des beantragten Projekts ist der Begriff der ‚Schreibs-zene‘. Er eignet sich in besonderer Weise dafür, ein so weithin heterogenes, uner-forschtes und die Partition der Wissenschaft überschreitendes Untersuchungsge-biet zu erschließen. ‚Schreiben‘, so die Annahme, setzt sich aus drei sich gegenseitig bedingenden Elementen zusammen – Körperlichkeit, Instrumentalität und Sprachlichkeit –, die gemeinsam eine ‚Szene‘ bilden, auf der sich alle drei als Quelle möglicher Wider-stände darstellen können, die im Schreiben überwunden werden müssen. Wo das Schreiben sich durch diese Widerstände bei und an sich selbst aufgehalten sieht, thematisiert, problematisiert und reflektiert es in eminent literarischer Weise den Rahmen, durch den es gleichsam aus der alltäglichen Praxis auf eine Bühne her-ausgehoben ist, und die Rollenverteilungen, die sich auf dieser Schreibszene ab-bilden, indem es die Frage nach der Regie aufwirft. Durch diese sechs Parameter – Sprache (Semantik des Schreibens), Instrumentalität (Technologie des Schreibens) und Geste (Körperlichkeit des Schreibens); Rahmen, Rollenverteilung(en) und Re-gie – lassen sich begrifflich höchst flexibel die komplexen, historisch und individuell von Autor(in) zu Autor(in), ja gelegentlich innerhalb ihrer Entwicklungsphasen je singulär zu bestimmenden, aber methodisch immer nur nachträglich rekonstruierba-ren Schreibszenen fassen. Als Basisterm einer transdisziplinären Wissenschaft des Schreibens und Wissens ermöglicht der Begriff der Schreibszene also sowohl die philologischen und schreibmaterialen Situationen des Schreibens und des Schreibers als auch ihre sozialen Begleitumstände in ein praxeologisches Modell zu integrieren. Die Ge-schichte dieser Schreibszene ist ihre „Genealogie“, die nicht nur „die ganze Ge-schichte eines ‚Dings‘, eines Organs, eines Brauchs“, etwa des Schreibens, als „ei-ne fortgesetzte Zeichen-Kette von immer neuen Interpretationen und Zurechtma-chungen“, interpretiert, sondern auch die gegen diese Überwältigungsprozesse „je-des Mal aufgewendeten Widerstände“ hinzurechnet. (Friedrich Nietzsche) Die Genealogie politischen Schreibens steht und fällt mit dem Begriff des Politi-schen, der wiederum selbst äußerst umstritten ist. „Eine Geschichte des Begriffs Po-litik wäre noch zu schreiben“, so Reinhart Koselleck in Kritik und Krise, eine Bemer-kung, die bis heute Gültigkeit hat. Aus diesem Grund, und hier liegt einer der Schwerpunkte des beantragten Projekts, muß die Begriffs- und Praxisgeschichte politischen Schreibens von zwei Seiten aufgenommen werden, vom „Schreiben“ und vom „Politischen“ her, um die Entfernung und die enge Verwandtschaft, d.h. die Verwicklungen beider Stränge am Beispiel von Schreibszenen zu untersuchen. Dafür bedarf es eines Zugangs, der das Untersuchungsfeld so weit wie möglich öffnet, um das gesamte Panorama politischen Schreibens in den Blick zu bekom-men. So ist unter einer „Politik des Schreibens“ nicht nur das Engagement von Schrift-stellern oder eine Politik der Literatur zu verstehen, die auf die Welt der politischen Ereignisse reagiert, sondern der ganze transversale Komplex politischen Schrei-bens. Dieser Komplex umfaßt zahlreiche, durchaus heterogene Prozesse, die so-wohl die Geschichte des Subjekts, der gesellschaftlichen Felder und ihrer Institutio-nen (insbesondere die, welche macht- oder staatstragende Funktionen überneh-men) und das aisthetische Regime betreffen: 1. die „vorpolitischen Sinnhorizonte“ (Andreas Reckwitz), die das Subjekt als politisches erst konstituieren, d.h. jene Technologien des Selbst und Formen der Selbstregierung, die im Prozeß des Schreibens zum Ausdruck kommen oder erst hervorgebracht werden; 2. das Schrei-ben als widerständige Praxis politischer Opposition; 3. die Bedeutung des Schrei-bens für makropolitische Ereignisse: Staatgründungen, Gesetzgebungen, politische Beschlüsse, Revolutionen; 4. die Instrumentalisierung des Schreibens zum Zwecke des Machterhalts oder der Durchsetzung von Herrschaft im Verwaltungsapparat; 5. die (Unter-)Schrift als Medium und Legitimationsinstanz des Rechts; 6. das Schrei-ben als (problematische) Grundlage jeder ökonomischen Transaktion; 7. als Mittel gesellschaftlicher Selbstbeschreibung (sei sie biographischer, historischer und/oder wissenschaftlicher Natur); 8. die ästhetische Einrichtung und Aufteilung der Welt, von Raum und Zeit, wie sie durch das Schreiben hervorgebracht wird. Das veranschlagte Projekt sieht sich damit einer Vielzahl komplexer Probleme ge-genüber, die sowohl die Geschichte des Schreibens im engeren (also die der Litera-tur) als auch im weiteren Sinne (der Politik, des Rechts, der Ökonomie und des Pri-vaten) betreffen.

Publikationen

Monographien

Das Netzwerk von Gilles Deleuze: Immanenz im Internet und auf Video. Berlin: Merve Verlag, 2000. „Unsere ganze Philosophie ist Berichtigung des Sprachgebrauchs“: Friedrich Nietz-sches Lichtenberg-Rezeption im Spannungsfeld zwischen Sprachkritik (Rhetorik) und historischer Kritik (Genealogie). München: Wilhelm Fink Verlag, 1996.

Herausgaben und Mitherausgaben

with Claas Morgenroth and Matthias Thiele: Die Schreibszene als politische Szene. München: Wilhelm Fink Verlag, 2012. with Claas Morgenroth and Matthias Thiele: Portable Media: Schreibszenen in Bewe-gung zwischen Peripatetik und Mobiltelefon. München: Wilhelm Fink Verlag, 2010. with Davide Giuriato and Sandro Zanetti: „Schreiben heißt: sich selber lesen“: Schreibszenen als Selbstlektüren. München: Wilhelm Fink Verlag, 2008. with Davide Giuriato and Sandro Zanetti: „System ohne General“: Schreibszenen im digitalen Zeitalter. München: Wilhelm Fink Verlag, 2006. Biopolitik und Rassismus. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 2003.

Artikel

mit Claas Morgenroth und Matthias Thiele: „Politisches Schreiben. Einleitung“. In: ders.: Die Schreibszene als politische Szene. München: Wilhelm Fink Verlag, 2012, p. 7-33. „Nachwort“. In: José Antonio Marina (ed.): Die Passion der Macht: Theorie und Praxis der Herrschaft. Basel: Schabe Verlag, 2011, p. 177-183. mit Matthias Thiele: „Portable Media. Von der Schreibszene zur mobilen Aufzeich-nungsszene“. In.: Portable Media: Schreibszenen in Bewegung zwischen Peripatetik und Mobiltelefon. München: Wilhelm Fink Verlag, 2010, p. 7-27. „Telephon für Friedrich Nietzsche“. In: Alexander Roesler and Bernd Stiegler (eds.): Philosophie in der Medientheorie: Von Adorno bis Žižek. München: Wilhelm Fink Verlag, 2008, p. 199-216. „Deleuze, Bartleby und Wakefield, Spinoza“. In: Peter Gente und Peter Weibel (eds.): Deleuze und die Künste. Frankfurt a.M.: Suhrkamp Verlag, 2007, p. 95-105.