Sigrid Weigel Ehem. Senior Fellow

Sigrid Weigel
April - September 2012

Forschungsprojekt

Mein Projekt untersucht das Mitgefühl als grundlegende menschliche Eigenschaft und Voraussetzung intersubjektiver Beziehungen, somit auch als Voraussetzung der Konstituierung einer jeglichen Gemeinschaft. Im Zuge des vergangenen Jahrzehnts hat diese menschliche Eigenschaft sowohl in der Forschung als auch in der Gesellschaft im Allgemeinen wieder einen prominenten Stellenwert erhalten, wenn sie auch in Gestalt unterschiedlicher Begriffe auftritt. Einerseits ist die Empathie seit der Entdeckung der „Spiegelneuronen“ in den Neurowissenschaften, der Psychologie und der evolutionären Anthropologie zu einem Schlüsselbegriff geworden. Andererseits wird in kulturellen Debatten gefragt, ob sich emotionale Reaktionen, die durch Bilder von Opfern und Leid hervorgerufen werden, noch als „wahres“ Mitgefühl bewerten lassen oder ob es sich dabei nicht um eine selbstreferentielle Emotion handelt. Selbst in den Geisteswissenschaften bildet dieses Phänomen keinen einheitlichen Korpus, sondern gründet auf unterschiedlichen und widersprüchlichen Konzeptualisierungen (etwa als Affekt, Tugend, Vermögen, Gefühlsausdruck, Pathosformel usw.). Gleichzeitig stellt die zunehmende Sichtbarkeit von Ritualen öffentlicher Trauer und Formen der Beileidsbekundung auf den Straßen europäischer Städte eine Wiederkehr der – diesmal in gewöhnlichen Menschen verkörperten – christlichen Ikonographie der Trauer dar. Das Projekt zielt darauf ab, die Empathie, ein scheinbar traditionsloses Konzept, in den umfassanderen Rahmen und die lange Geschichte verwandter Konzepte wie Sympathie, Beileid, Mitleid und Anteilnahme einzuordnen. Das Projekt rekonstruiert aus interdisziplinärer und komparativer Sicht die Semantik und die kulturellen Bedeutungen der verschiedenen Konzepte innerhalb ihrer spezi schen kulturellen und historischen Kontexte, von der Antike bis zur Gegenwart. Dies umfasst Text- und Bildmanifestationen aus den Bereichen des reli- giösen, philosophischen und ästhetischen Wissens, aber auch aus der bildenden und darstellenden Kunst sowie aus kulturellen Praktiken und Ritualen. Eine der zentralen Fragen betrifft die Modi, in denen etwas so üchtiges wie ein geteiltes Gefühl als Mittler zur Gestaltung eines Gesellschaftskörpers oder einer Gemein- schaft fungieren kann, oder, um eine kulturelle Ikone ins Spiel zu bringen: Wie ist es möglich, dass Flüssigkeiten wie Tränen in einen corpus communis verwandelt werden, wie im mittelalterlichen Szenario der Marienklage?