Vita
Thomas Hauschild ist Professor für Sozial-/Kultur-Anthropologie und vergleichende Kultursoziologie an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Er studierte Anthropologie, Volkskunde und Religionsgeschichte in Hamburg wo er 1979 seine Dissertation über den Bösen Blick vorlegte. Nach zahlreichen Feldforschungen in Süditalien habilitierte er sich 1990 an der Universität Köln zu »Magie und Macht in Italien«. Er war Gastprofessor in Hamburg, Rome und Heidelberg. Er war Fellow und Mitarbeiter am Wissenschaftskolleg zu Berlin, am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK) Wien, am SFB 511 Literatur und Anthropologie und am Exzellenzcluster 16 Kulturelle Grundlagen von Integration. Thomas Hauschild ist korrespondierendes Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und Mitherausgeber zweier Zeitschriften: der »Zeitschrift für Kulturwissenschaften« und »Historische Anthropologie«
Stand: 2011
Forschungsschwerpunkte
Social and cultural anthropology of Catholicism; religion, politics and geography of the Mediterranean and of Europe; anthropological museology; historical approaches in anthropology, including world history and the evolutionary theory of culture; the history of anthropology, especially anthropology and fascism.
IKKM Forschungsprojekt
Ich verfolge in diesem Winter zwei Forschungsprojekte
1. "Der Traum vom Fliegen - the art of flying"
Unter Begriffen wie "Semiose" oder z.B. "loop" wird gegenwärtig in Medien und anderen Geisteswissenschaften eine gewisse Rekurrivität der Zeichen, eine symbolhafte und performativ-politische Sicht auf Praxen und Symbole und eine Art Selbstgestaltung der Zeichen untersucht. Mit unserer Ausstellung (Haus der Kulturen der Welt, Berlin, März - Mai 2011) wollen Britta Heinrich und ich daran erinnern, dass evolutionäre Grundlagen, physisch verankerte Bewusstseinsstrukturen und materielle Verhältnisse damit nicht ihre Effektivität verloren haben. Der "Traum vom Fliegen" ist auf Grund der zum "Ent-Werfen" (von Blicken, Dingen, neurobiologisch analysierbaren Intentionalitätsakten, Probehandeln) gereiften Wahrnehmungsapparatur des Menschen allgegenwärtig in menschlichen Aktivitäten. Humanphysiologen sprechen darum von der inneren "Ballistik" des Gleichgewichtssinns, des Gesichtssinns, des konstruierten Bewusstseins-Raumes. Das ist eine evolutionär gewachsene Apparatur, die Menschen dazu befähig, ein Selbst zu sein, scheinbar frei in Raum und Zeit zu navigieren, ihren eigenen Flug zu träumen, sich wie fliegend in grandiosen Szenerien des Nahtoderlebnisses über sich selbst zu erheben und realen Flug körperlich bis zu einem gewissen Punkt zu ertragen. Menschen können besser Werfen als höhere Tiere, sie können sich selbst automatisch von oben imaginieren, sie erfahren daher liminale Zustände und kanalisieren sie in einen neuen Flow- mit Hilfe von Ritualen, aber auch von Technologien, Reisen, Extremerfahrungen, Phantasien, Literaturen, Medien. Hier liegt eine Quelle für zahlreiche Loops und Symbolisierungen und nicht bloß ein einfacher Gegenstand der Politisierung oder performativen Ringens von Geltung in einem sich selbst gestaltenden semiotischen Kosmos.
Doch die scheinbare Erfüllung des "Menschheitstraums" durch Motorflug gelingt nur Gesellschaften, die durch innere und äußere Kolonisierung, als Imperien oder imperiale Netzwerke eine bestimmte Verdichtung der Produktion von Waffen, Wasser- und Landfahrzeugen, Leichtmaterialien usw. entwickelt haben. Nur so können Raketen, Flugbomben und Luftfahrzeuge entstehen (evtl. Mesopotamien, Altindien, südamerikanische Reiche; China ab ca. 1000, Europa ab Ende des 18. Jh.). Diese Prozesse mobilisieren die biologischen Gegebenheiten menschlicher Wahrnehmung und der Begeisterung, das Kulturgut des Fliegens. Doch zugleich lebt der Traum vom Fliegen weiter und drückt medial und praktisch auf die Realität des Motor- und Raketenfluges, so dass immer neue Kompromisse gefunden werden müssen (Wunsch nach mehr Bequemlichkeit, Flugsport, Konkurrenz durch Spielmedien). Wir werden dies in der Ausstellung u.a. an Vergleichen zwischen Flugpionieren und Schamanen zeigen, zwischen "primitiven" Waffen und modernen Flugtechnologien sowie in einer ganzen Reihe von ins Populäre, in’s Spiel gekehrten Anordnungen der experimentellen Psychologie. Hervorzuheben ist dabei der mit Unterstützung des IKKM von dem Ethnologen Michael Oppitz in Nepal eigens für die Ausstellung gedrehte Film, der einen Schamanen beim Abfliegen seiner Flugrouten mit einem Hubschrauber zeigt – hier kommen digitale Kartographie, Motorflug und Imagination zur Bildung einer komplexen kulturellen Hybride zusammen.
2. Santa Claus und ‘Weißer Alter’: Medien, Rituale und Tauschbeziehungen in Alt-Eurasien und in der Postmoderne.
Die Figur des "Weihnachtsmanns" durchdringt als Ornament, als harmlose Ritualistik, als Accessoire und als untergründige Erzählung die postmoderne Medienwelt. Es handelt sich um den ungewöhnlichen Fall einer Religion, deren Anhänger zum größten Teil nicht an ihren Gott glauben - abgesehen eben von den Kindern.
Diese Mischung aus Medialität und ritualisiertem Tausch mit einer übernatürlichen Person, von Kult im Sinne der Religionsethnologie, breitet sich mit der kapitalistischen Warenkultur schnell über die ganze Welt aus. Zugleich ist die hagiographische Genealogie der Figur im Westen (zum Ärger der christlichen Kirchen) fast schon in Vergessenheit geraten. Mit meiner Studie will ich dazu beitragen, diese Genealogie wieder in Erinnerung zu bringen und sie zugleich so ausweiten, dass das Fest in Zukunft auch für Nichtchristen als potentieller Teil ihres kulturellen Erbes erscheinen kann – nachdem sie ohnehin von der kapitalistischen Warenkultur dauernd mit Santa Claus in Berührung gebracht werden. Bei ernüchterter Betrachtung des Bildes, der Maske und des Ritualinventars stehen der christliche Sankt Nikolaus und sein Derivat, Santa Claus, deutlich in einer komplexen Wechselbeziehung mit einer asiatischen Götterfigur, dem "weißen Alten". Als Gott der Fruchtbarkeit, von Wasser und Eis, als Schutzfigur des Wanderns der Herden, der freien Wege, des freien Güterverkehrs und des langen Lebens wird er in China, in der Mongolei, in Japan, Sibirien und in vielen anderen anhängenden Bereichen verehrt, wobei im Zentrum immer Rituale des Tauschs zu stehen scheinen.
Diesen buddhistisch-indoarisch-turkomongolisch-christlichen Synkretismus möchte ich in meiner Darstellung in's Unerträgliche steigern, indem ich auch Optionen der europäischen und der asiatischen Philosophie einbeziehe, insbesondere Nitzsches Zarathustralegende ("Ich will mich verschenken") und Dschuangdses daoistische Auseinandersetzung mit der den Dialektiken der Askese des Rückzugs vom Familienleben, von der Welt. Dadurch werden therapeutische Traditionen aus dem Besitz einzelner Kulturen gelöst und die universalen Quellen von medialen Synkretismen aufgedeckt: Die Sorge um Sich, die Sorge um die zukünftigen Generationen und die Existenz von Tauschbeziehungen, die sich nicht ohne Weiteres im Begriff performativer Geltungsansprüche und anderer Egoismen rahmen lassen.
Publikationen
»Image, Trance, and the Other in Mediterranean Folk Religion«. In: Heike Bock et al. (eds.): Religion and its Other Secular and Sacral Concepts and Practices in Interaction. Frankfurt: Campus 2009, p. 212-237.
Ritual und Gewalt: Ethnologische Studien an europäischen und mediterranen Gesellschaften. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2008.
with Michael Frank, Bettina Gockel, Dorothee Kimmich and Kirsten Mahlke (eds.): Räume. Zeitschrift für Kulturwissenschaften 2 (2008).
with Michael Frank, Bettina Gockel, Dorothee Kimmich and Kirsten Mahlke (eds.): Fremde Dinge, Zeitschrift für Kulturwissenschaften 1 (2007).
with Sina Kottmann and Martin Zillinger: »Les syncrétismes en Méditerranée«. In: Emilio La Parra and F. Thierry Fabre (eds.): Entre Europe et Méditerranée. Paix et guerres entre les cultures. Paris/Arles: Éditions Actes du Sud 2005, p. 139-174.
»Kultureller Relativismus und anthropologische Nationen. Der Fall der deutschen Völkerkunde«. In: Aleida Assmann, Ulrich Gaier und Giseal Trommsdorf (eds.): Positionen der Kuluranthropologie. Frankfurt/M.: Suhrkamp 2005, p. 121-147.
Macht und Magie in Italien. Gifkendorf: Merlin, 2002. (English Translation: Magic and Power in Southern Italy, EASA-Series. London: Berghahn 2010 (forthcoming).
»Geschichte und Nichtgeschichte des Körpers». In: Sylvia Sasse and Stefanie Wenner (eds.): Kollektivkörper. Kunst und Politik von Verbindung. Marburg: transcript, 2002.
with Bernd Jürgen Warneken: Inspecting Germany. Internationale Deutschland-Ethnographie der Gegenwart. Forum Europäische Ethnologie 1 (2002). Hamburg: LIT-Verlag.
(ed.): Lebenslust und Fremdenfurcht. Ethnologie im Dritten Reich. Frankfurt/M.: Suhrkamp 1995.
Der böse Blick. Ideengeschichtliche und sozialpsychologische Untersuchungen. Beiträge zur Ethnomedizin, Ethnobotanik und Ethnozoologie. Bd. VII (1979). Hamburg: Buske.