Vita
Wolfram Nitsch (geboren 1960) ist Professor am Romanischen Seminar der Universität zu Köln und Vorstandsmitglied des dortigen Zentrums für Medienwissenschaften sowie des Centrums für interdisziplinäre Frankreich- und Frankophonieforschung. Er studierte Französische, Deutsche und Spanische Philologie an der LMU München, wo er promovierte und habilitierte und als wissenschaftlicher Mitarbeiter und Vertreter der Professur für Romanische Philologie tätig war. Nitsch war zudem Gastdozent an verschiedenen spanischsprachigen Universitäten: Universidad Nacional de Tucumán (Argentinien), Universidad Carlos III de Madrid (Spanien)und Universidad Nacional de La Plata (Argentinien). Seit 2010 ist er Mitherausgeber der Schriftenreihe "machina" des transcript Verlags.
Stand: 2012
Forschungsschwerpunkte
Französischer Roman des 19. und 20. Jahrhunderts; französische Prosa der Gegenwart; spanische Literatur und Kultur des Barock; argentinische Literatur der Moderne; französisches Kino; literarische Anthropologie; Medientheorie; Theorie und Geschichte der Metapher
IKKM Forschungsprojekt
MOBILE MEDIATOPE - Urbane Transporte in Paris-Filmen der Gegenwart
In einer als «Ökologie des Geistes» verstandenen Mediologie (Debray) bilden Transporttechniken ebenso wie Transmissionstechniken die materielle Umwelt mentaler Phänomene. Allerdings sind Verkehrsmittel als ‹strukturelle Medien› lange Zeit die «armen Verwandten» der Informationsmedien im Feld der Medienwissenschaften geblieben, obwohl bereits deren Diskurs¬begründer McLuhan einen beide Techniken umfassenden Begriff von Kommunikation vertrat. Erst neuerdings erfahren sie verstärkte theoretische Aufmerksamkeit, sei es aus anthropologischer Perspektive wie in Augés Studien zur metropolitanen Mobilität oder aus ästhetischem Blickwinkel wie in Schwarzers Untersuchungen zur ‹zoomscape› der Moderne, bei deren Konstitution neue Vehikel und neue Bildmedien zusammenwirken. Im Anschluss an solche Überlegungen zielt das Vorhaben darauf, städtische Verkehrsmittel der Gegenwart als mobile Mediatope zu beschreiben. Dabei sollen sie zum einen als Milieus betrachtet werden, in denen sich menschliche Wahrnehmung auf besondere Weise formiert. Urbane Transporte mobilisieren den Beobachter gegenüber dem Stadtbild, das ihm je nach Geschwindigkeit als Bilderflucht oder auch als überraschendes Standbild erscheint; und sie sozialisieren ihn, indem sie in wechselnde Kollektive von Fahrgästen und Verkehrsteilnehmern eingliedern. Zum anderen sollen die Verkehrsmittel aber auch selbst in städtischen Umwelten situiert werden. Die Stadtwahrnehmung des motorisierten und umstellten Beobachters hängt nicht zuletzt davon ab, wie abstrakt und wie zeichenhaft sich der von ihm benutzte Transportkorridor gestaltet. Er bewegt sich auf verschieden stark abgegrenzten Bahnen und Straßen, und er durchquert verschieden stark beschriftete, bebilderte und beschallte Räume, die oft mit seiner Bewegung oder mit deren Unterbrechung (etwa vor Bildschirmen) rechnen. Als systematischer Ertrag des Projekts winkt somit eine Topologie urbaner Transporte, die den vielfältigen Mobilitätsoptionen des zeitgenössischen Verkehrsteilnehmers (Beschleunigung vs. Entschleunigung, Kollektivtransport vs. Individualverkehr, oberirdische vs. unterirdische Wege) Rechnung trägt. Ihren Bezugsrahmen werden zwei hierzulande erst seit kurzem rezipierte Theorietraditionen aus Frankreich bilden, die McLuhans Überlegungen zu einer ‹media ecology› zu differenzieren gestatten: die von Debray mit Rücksicht auf ökologische Denkfiguren entworfene ‹Mediologie› sowie die von Mauss begründete, von Haudricourt und Leroi-Gourhan weiterentwickelte und von Serres und Latour erneuerte ‹kulturelle Technologie›, eine Sozial- und Kulturanthropologie der Technik. Die so umrissene systematische Beschreibung soll an Paris-Filmen aus den letzten Jahrzehnten gewonnen und überprüft werden, in denen die gemeinhin ungeplante Auswirkung urbaner Transporte auf die menschliche Wahrnehmung besonders aufmerksam beobachtet wird. Ihren gemeinsamen historischen Hintergrund bildet die zunehmende Beschleunigung und Vernetzung des Stadtverkehrs im Zuge der sogenannten ‹Zweiten Hauss¬mannisierung› der Nachkriegszeit, der Paris immer mehr von einem monumentalen Ensemble in ein dezentriertes Netz mit Umsteigemöglichkeiten zwischen verschiedensten Verkehrsmitteln (Eisenbahn, Metro, Omnibus, Automobil; neuerdings auch wieder Trambahn und Fahrrad) verwandelt hat. Als besonders aufschlussreiche Erkundungen dieses Verkehrsraums sollen neben einschlägigen Episodenfilmen (PARIS VU PAR, VINGT ANS APRÈS, PARIS JE T’AIME) stilbildende Filme von Tati (TRAFIC), Rivette (LE PONT DU NORD), Wenders (DER AMERIKANISCHE FREUND), Beineix (DIVA) und Besson (SUBWAY), aber auch weniger bekannte Produktionen von Claire Denis (VENDREDI SOIR) und Jean-Claude Guiguet (LES PASSAGERS) genauer betrachtet werden.
Publikationen
Monographien
Sprache und Gewalt bei Claude Simon. Interpretationen zu seinem Romanwerk der sechziger Jahre, Tübingen: Narr 1992 (Romanica Monacensia 39)
(Mitverf.): Jean Renoir und die Dreißiger. Soziale Utopie und ästhetische Revolution, München: Institut Français 1995 (CICIM 42)
Barocktheater als Spielraum. Studien zu Lope de Vega und Tirso de Molina, Tübingen: Narr 2000 (Romanica Monacensia 57)
Sammelbände
Rédas Paris. Topographien eines späten Flaneurs, Passau: Stutz 2001
(Hrsg. mit Bernhard Teuber): Vom Flugblatt zum Feuilleton. Mediengebrauch und ästhetische Anthropologie in historischer Perspektive, Tübingen: Narr 2002
(Hrsg. mit Rainer Zaiser): Marcel Proust und die Künste, Frankfurt a. M.: Insel 2004 (12. Publikation der Marcel Proust Gesellschaft)
(Hrsg. mit Irene Albers): Transports. Les métaphores de Claude Simon, Bern u. a.: Lang 2006
(Hrsg. mit Matei Chihaia/Alejandra Torres): Ficciones de los medios en la periferia. Técnicas de comunicación en la ficción hispanoamericana moderna, Köln: Universitäts- und Stadtbibliothek Köln 2008 (Kölner elektronische Schriftenreihe 1), http://kups.ub.uni-koeln.de/volltexte/2008/2585
Aufsätze
«Phantasmen aus Benzin. Prousts Automobile in textgeschichtlicher Sicht», in: Rainer Warning (Hrsg.): Marcel Proust. Schreiben ohne Ende, Frankfurt a. M.: Insel 1994 (7. Publikation der Marcel Proust Gesellschaft), S. 93–108; frz.: «Fantasmes d’essence. Les automobiles de Proust à travers l’histoire du texte», in: Rainer Warning/Jean Milly (Hrsg.): Marcel Proust. Écrire sans fin, Paris: CNRS 1996 (Textes et manuscrits), S. 125–141
«Paris ohne Gesicht. Städtische Nicht-Orte in der französischen Prosa der Gegenwart», in: Andreas Mahler (Hrsg.): Stadt-Bilder. Allegorie – Mimesis – Imagination, Heidelberg: Winter 1999 (Beiträge zur neueren Literaturgeschichte 170), S. 305–321
«Liebe und Zufall in der Megalopole. Städtische Räume in Rohmers Comédies et proverbes», in: Uta Felten/Volker Roloff (Hrsg.): Rohmer intermedial, Tübingen: Stauffenburg 2001 (Siegener Forschungen zur romanischen Literatur- und Medienwissenschaft 9), S. 161–172
«Fiktive Brandzeichen. Körper, Schrift und Spiel bei Lope de Vega», in: Bernhard Teuber/Horst Weich (Hrsg.): Iberische Körperbilder im Dialog der Medien und Kulturen, Frankfurt a. M.: Vervuert 2002, S. 65–75
«Balzac und die Medien. Technik in der Metaphorik der Comédie humaine», in: W. N./Bernhard Teuber (Hrsg.): Vom Flugblatt zum Feuilleton. Mediengebrauch und ästhetische Anthropologie in historischer Perspektive, Tübingen: Narr 2002, S. 251–262
«Supplementary organs. Media and machinery in the late novels of Claude Simon», in: Jean H. Duffy/Alastair Duncan (Hrsg.): Claude Simon. A retrospective, Liverpool: Liverpool University Press 2002, S. 152–167
Une écriture caverneuse. Médiologie et anthropologie dans La Grande Beune de Pierre Michon», in: Ivan Farron/Karl Kürtös (Hrsg.): Pierre Michon entre pinacothèque et bibliothèque, Bern u. a.: Lang 2003 (Variations 4), S. 141–157
«Un véhicule littéraire: le tramway», in: Médium Nr. 7 (2006), S. 79–95
laquo;Vom Panorama zum Stereoskop. Medium und Metapher bei Proust», in: W. N./Rainer Zaiser (Hrsg.): Marcel Proust und die Künste, Frankfurt a. M.: Insel 2004 (12. Publikation der Marcel Proust Gesellschaft), S. 240–262
«Vom Mikrokosmos zum Knotenpunkt. Raum in der Kulturanthropologie Leroi-Gourhans und in Balzacs Ferragus», in: Jörg Dünne/Hermann Doetsch/Roger Lüdeke (Hrsg.): Von Pilgerwegen, Schriftspuren und Blickpunkten. Raumpraktiken in medienhistorischer Perspektive, Würzburg: Königshausen & Neumann 2004, S. 175–185
«Die Insel der Reproduktionen. Medium und Spiel in Bioy Casares’ Erzählung La invención de Morel», in: Iberoromania Nr. 60 (2004), S. 102–117; span.: «La isla de las reproducciones. Medio y juego en La invención de Morel, de Adolfo Bioy Casares», in: Arbor 186/Anexo 2 (2010), S. 143–163
«Theater der Magie — Magie des Theaters. Spuk und Zauberei im Theater Calderóns», in: Wolfgang Matzat/Gerhard Penzkofer (Hrsg.): Der Prozeß der Imagination. Magie und Empirie in der spanischen Literatur der frühen Neuzeit, Tübingen: Niemeyer 2005 (Beihefte zur Iberoromania 21), S. 307–321
«Der hohle Kopf. Don Quijote und die Technik», in: Christoph Strosetzki (Hrsg.): Miguel de Cervantes’ Don Quijote. Explizite und implizite Diskurse im Don Quijote, Berlin: Schmidt 2005 (Studienreihe Romania 22), S. 137–148; frz.: «La tête creuse. Don Quichotte et la technique», in: Kirsten Kramer/Jens Baumgarten (Hrsg.): Visualisierung und kultureller Transfer, Würzburg: Königshausen & Neumann 2009, S. 341–349
«Anthropologische und technikzentrierte Medientheorien», in: Claudia Liebrand/Irmela Schneider u. a. (Hrsg.): Einführung in die Medienkulturwissenschaft, Münster: Lit 2005, S. 81–98
«Literatura, memoria, fotografía. Rodolfo Walsh y la inscripción fotográfica», in: Nilda Flawiá de Fernández/Silvia Patricia Israilev (Hrsg.): Hispanismo: Discursos culturales, identidad y memoria, Tucumán: IILAC 2006, Bd. 1, S. 79–85
Marginale Lager. Zur Geschichte des Sammelns im französischen Roman», in: Barbara Marx/Karl-Siegbert Rehberg (Hrsg.): Sammeln als Institution. Von der fürstlichen Wunderkammer zum Mäzenatentum des Staates, München/Berlin: Deutscher Kunstverlag 2006, S. 247–260
«Die verbotene Kammer. Photographie und Poesie bei Gérard Macé», in: Gerhard Penzkofer (Hrsg.): Postmoderne Lyrik — Lyrik in der Postmoderne. Studien zu den romanischen Literaturen der Gegenwart, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007, S. 149–161; frz.: «La chambre interdite. Photographie et poésie chez Gérard Macé», in: Revue des sciences humaines Nr. 297 (2010), S. 135–150
«Dädalus und Aramis. Latours symmetrische Anthropologie der Technik», in: Georg Kneer/Markus Schroer/Erhard Schüttpelz (Hrsg.): Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt a. M.: Suhrkamp 2008 (stw 1862), S. 219–233
«Der Bürgerkrieg als Medienereignis. Kommunikationstechniken in Malraux’ Roman L’espoir», in: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 118 (2008), S. 125–140
«Der Blitz und das Netz. Mythen der Technik bei Góngora», in: W. N./Bernhard Teuber (Hrsg.): Zwischen dem Heiligen und dem Profanen. Religion, Mythologie, Weltlichkeit in der spanischen Literatur und Kultur der Frühen Neuzeit, München: Fink 2008 (Hispanistisches Kolloquium 3), S. 261–283
«Le passé capté. Mémoire et technique chez Patrick Modiano», in: Anne-Yvonne Julien (Hrsg.): Modiano ou les intermittences de la mémoire, Paris: Hermann 2010 (Savoir lettres), S. 373–390
«Prousts Telegramme. Technisierte Korrespondenz in À la recherche du temps perdu», in: Karin Westerwelle (Hrsg.): Proust und die Korrespondenz, Berlin: Insel 2010 (14. Publikation der Marcel Proust Gesellschaft), S. 143–162