Archiv für Mediengeschichte 16: »Medien der Bürokratie«
Das 16. Heft des Archivs für Mediengeschichte widmet sich den Medien der Bürokratie. Im Anschluss an soziologische oder parasitologische Bestimmungen der Bürokratie, wie sie Max Weber, Niklas Luhmann oder Michel Serres ins Zentrum neuzeitlich-moderner Machtausübung stellen, soll danach gefragt werden, was es konkret heißt, dass Bürokratien, im öffentlichen ebenso wie im privaten Leben, unsere Lage bestimmen. Zu diesem Zweck muss die großformatige Kategorie der Bürokratie auf ihre kleinteiligen Ermöglichungsbedingungen bezogen werden: Keine Bürokratie ohne Büros, keine mediengeschichtliche Perspektive auf die Bürokratie ohne die Untersuchung ihrer räumlichen Situierung, ihrer apparativen und personalen Ausstattung, ihrer Möblierung sowie jener Schnittstellen, die bürokratische Akte und das Publikum aufeinander beziehen und ihren Verkehr regeln.
Die medientechnische Infrastruktur wirkt sich allerdings nicht nur auf die Verfahren der Bürokratie, also auf Erfassen, Verarbeiten und Übertragen aus, sondern auch auf die von ihr hervorgebrachten Professionsrollen und Subjektivierungstypen. Bürokratien sind vor allem anderen immer auch Aufschreibesysteme, insofern eben ein unaufhörliches Notieren, Abschreiben, Verzeichnen, Registrieren, Archivieren (und nicht zu vergessen: Kanzellieren) ihre basale Operativität bestimmt. Dem Beamten obliegt dabei nicht mehr nur, wie noch unter den Bedingungen des Absolutismus, die Ausarbeitung der politischen Tagesbefehle und die Sicherstellung der nötigen Folgebereitschaft der Bevölkerung. Mediengeschichte sieht sich unter diesen Bedingungen in der Lage, das Subjekt selbst als einen neuen Typ des Beamten zu entziffern (Friedrich Kittler), der sich nicht mehr als Sekretär seines Territorialherrn, sondern als im reformstaatlichen Auftrag operierender Erzieher oder Funktionär des Menschengeschlechts verstand. Moderne Bürokratien haben es also mit der Aufgabe zu tun, das Mensch- und Zusammensein selbst neu zu programmieren sowie die Regeln politischer Zugehörigkeit (Staaten, Imperien, Weltgesellschaft) und die Mechanismen der „Daseinsfürsorge“ darauf abzustimmen. Bürokratische Aufgaben sind dabei, wie schon Alan Turing wusste, vor jeder inhaltlichen Spezifik und unabhängig davon, ob sie von Personen oder Maschinen erledigt werden, durch die Rigorosität einer Regelbefolgung gekennzeichnet, wie sie sonst nur mathematische Operationen und religiöse Rituale kennen.
Ausgehend von dieser wechselseitigen Implikation von Bürokratie und Medien lassen sich einige Felder identifizieren, auf denen dieses Verhältnis greifbar wird:
1. Räume, Medien, Infrastrukturen
Der Bürokratie wurden immer schon bestimmte Räume für verwaltungstechnische Aufgaben reserviert und sie wurden umsichtig mit unterschiedlichen Einrichtungsgegenständen ausgestattet. Schließlich ist das Bureau, das sich vom altfranzösischen bure oder burel ableitet, ursprünglich der mit einem besonderen Wollstoff bespannte, also eigens präparierte Schreibtisch. Das Büro ist sicherlich das prominenteste Beispiel für einen derartigen Arbeitsraum, in dem die basalen Kulturtechniken der Bürokratie – Schreiben, Lesen und Rechnen – ausgeführt werden. Es ist nicht lediglich ein sich historisch wandelnder, von seiner Umwelt sorgfältig abgeschlossener Raum der Datenprozessierung, sondern ebenso ein Raum, der vielfältigste, wenn auch hochselektive Beziehungen zu seinem Außen unterhält. Das Büro muss gewährleisten, dass unterschiedliche, in der Welt verstreute Sachverhalte und Ereignisse miteinander verbunden und auf übersichtlichen Oberflächen zur Darstellung gebracht werden können, also die Gestalt von behördlichen Mitteilungen, technischen Zeichnungen, Diagrammen, Photographien oder Filmen annehmen. Damit sind jene Infrastrukturen angesprochen, deren Aufgabe darin besteht, die Verfügung der Bürokratie über (analoge und digitale) Daten zu gewährleisten – und ebenso jene Kulturtechniken, die bürokratische Medien generieren.
2. Verfahren und ihre Implementierung
Die Bürokratie basiert auf geregelten Verfahren, die eine Entscheidung bestmöglich legitimieren sollen. Sie sind keine Wahrheitskriterien, sondern haben die Aufgabe, unterschiedliche Austausch- und Übersetzungsprozesse anzubahnen, Störungen vorhersehbar zu machen und „Wahrheit“ zu ermitteln, zu prüfen und weiterzugeben. Die Bürokratie konnte bis in die geheimsten Falten des alltäglichen Lebens vordringen, weil das Verfahren und die Untersuchung eine mediale Überlegenheit gegenüber anderen Formen gewährleisteten. Die Bürokratie, nistet sie sich einmal im Leben der Menschen ein, zählt zu den am schwersten zu zertrümmernden Gebilden, wie die periodisch wiederkehrenden Kampagnen der Entbürokratisierung sinnfällig machen. Ihre Zählebigkeit beruht auf ihrer Fähigkeit, eine Vielzahl von Medien, Kulturtechniken und Darstellungsformen (Liste, Akte, Dossier, Inventar, Untersuchung, Staatstafel, Formular, Fragebogen u.a.), aber auch politische Vorgaben unterschiedlichster Ausrichtung in ihre Verfahren einzubeziehen und die heterogensten Materien ihrem vielgerühmten Formalismus zu unterwerfen. Bürokratische Verfahren sind jedoch nicht zwingend öffentlich und transparent. Aller Publikumszugewandtheit zum Trotz, hat die Bürokratie ihre Arkana, wie sie im Begriff des ,Amtsgeheimnisses’ reflektiert werden.
3. Subjektivierungstypen und Menschenfassungen
Die Präsentationsformen und Beobachtungen eines Wissens über den Menschen werden von bürokratischen Medien geprägt. Die Subjektivierungstypen – die zugleich Subjekt als auch Objekt von Bürokratien sind – können auf jeweils historisch variierende Menschenfassungen (Walter Seitter) zurückgeführt werden. Ins Spiel kommt hier etwa die notorische Beobachtung, dass ab dem 18. Jahrhundert aufgrund unterschiedlicher (pädagogischer und juristischer) Medientechniken selbst vormalige Untertanen in die Kulturtechniken bürokratischer Aufschreibesysteme eingeübt werden. Eine Medienanthropologie der Bürokratie fragt danach, welche Subjektivierungstypen und Menschenfassungen die massive Bürokratisierung des Alltags hervorbrachte – nicht zuletzt durch medientechnische Innovationen wie den sogenannten Personal Computer, der die user in ihre eigenen Beamten verwandelt. Ebenso stellt sich die Frage, wie bürokratische Fremdverwaltung allmählich in Selbstverwaltung übergeht, indem den Bürgern über spezifische diskursive und mediale Arrangements eine Mitwirkungspflicht an bürokratischen Verfahren zugemutet wird. Eine derartige Normalisierung bürokratischer Machtverfahren, die alltägliche Schreibvorgänge den Standards von paperwork unterwirft (Guillory, Gitelman), kann zu Phänomenen einer mitunter grotesken Mimikry an die Sprache der Bürokratie führen, die die Neugier von Literaten ebenso wie von Juristen und Psychiatern auf sich zieht.
4. Mediengeschichtliche und regierungstechnische Zäsuren
Die Geschichte der Bürokratie steht in einem relevanten Zusammenhang mit Medieninnovationen, gouvernementalen Zieländerungen und der durch sie ausgelösten Weiterentwicklung von Kulturtechniken. Zurzeit wird dies an Entwicklungen erkennbar, die zu einer Verschränkung von analogen und digitalen Infrastrukturen im Raum der Verwaltung führen sowie an den in der Medienwissenschaft ebenso wie in der Jurisprudenz geführten Debatten zu den Rationalisierungsgewinnen von E-Government. Eine Mediengeschichte der Bürokratie betrifft sicherlich diese markante epistemische Schwelle – jedoch nicht ausschließlich. Bürokratien sind keineswegs eine singuläre Ausprägung des okzidentalen Rationalismus. Medienwissenschaftler wie Harold Innis und Soziologen wie Karl Wittfogel haben die Rolle bürokratischer Institutionen für die Entstehung und Funktionsweise antiker und fernöstlicher Imperien beschrieben, also für einen Zeitraum, der lange vor den Staatstafeln eines Leibniz liegt, die dem Fürsten neuzeitlicher Territorialstaaten umfassend über „Schaden und Nutzbarkeiten“ noch der entferntesten Dinge informieren sollten. Die Bürokratie kann ihre Macht deswegen erhalten und ausbauen, weil sie die Hybridisierungsfähigkeit besitzt, unterschiedliche ,neue‘ und ,alte‘ Medienformate zu verbinden und weil sie in der Lage ist, sich auf unterschiedlichste kulturelle und politische Gegebenheiten und lokale Spezifiken aufzupfropfen. Das gilt bis hin zu den jüngsten Verwaltungsideen von ‚New Public Management’ oder ‚Governance’.
Mit Beiträgen von Niklas Barth, Estelle Blaschke, Hanna Engelmeier, Jake Fraser, Sophia Gräfe, Torsten Hahn, Susanne Lepsius, Thorsten Lorenz, Julian Müller, Simon Roloff, Sarah Sander, Antonia von Schöning, Fabian Steinhauer, Marcus Twellmann, Burkhardt Wolf
Die Herausgeber: Friedrich Balke, Bernhard Siegert, Joseph Vogl