2011 | 1

Offene Objekte

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Inhalt

Editorial Lorenz Engell, Bernhard Siegert

Schriftkörper und Leseübung: Nietzsche als Stichwortgeber der Kulturwissenschaft Friedrich Balke

On the Epistemology of Computer Simulation Claus Pias

Der Guattari-Deleuze-Effekt Eric Alliez

Die Existenzweise technischer Objekte Gilbert Simondon

Kommentar zu "Die Existenzweise technischer Objekte" von Gilbert Simondon Michael Cuntz

Offene Objekte, Offene Subjekte. Körper, Dinge und Bindungen Antoine Hennion

Vorhang, Lampe, Sessel, Uhr. Auf der Suche nach den Dingen der Recherche Peter Geimer

Objet sentimental Anke te Heesen

Tokens, Suckers und der »Great New York Token War« Stefan Höhne

Klang-Objekte zwischen Ding und Kreatur. Noten zum Eselsschrei in Robert Bressons AU HASARD BALTHAZAR Ute Holl

Doublings and Couplings. The Feeling Thing in Valéry and Kleist Katrin Pahl

Actio, Narratio und das Gesicht der Dinge Uwe C. Steiner

Abstracts

Lorenz Engell, Bernhard Siegert Editorial

Die ›Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung‹ arbeitet an einer Standortbestimmung der Medien- und Kulturwissenschaft; in thematischer, methodischer und struktureller Hinsicht sowie nicht zuletzt in wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive. In ihren letzten beiden Ausgaben hat sie verstärkt und konzentriert programmatische Aspekte der Medienphilosophie und der Kulturtechnikforschung ausgearbeitet und vorgestellt. Damit hat sie ihre Aufmerksamkeit auf spezifische – und möglicherweise innovative – Felder und Ansätze innerhalb des weiteren Geschehens der Medien- und Kulturwissenschaft gelenkt und eine Paradigmendiskussion aufgenommen.

Editorial

Friedrich Balke Schriftkörper und Leseübung: Nietzsche als Stichwortgeber der Kulturwissenschaft

Als Philologe und Philosoph ebnet Nietzsche einer Konzeption der Ein-Schreibungen und ihrer Oberflächen, der Zeichenketten und ihrer Manipulationen den Weg, ohne den die gegenwärtigen Forschungen zu den medialen Gesten, Techniken und Dispositiven des Schreibens und Lesens nicht vorstellbar wären. Der Beitrag zeigt, dass und warum Nietzsches eigene Lese- und Schreibpraxis die Notationspraxis antiker hypomnemata erneuert: Aphorismen und Fragmente sammeln und ordnen das andernorts Gelesene und Gedachte, nicht um es kulturgeschichtlich in den Zeitraum seiner Entstehung einzuschließen oder es zum Gegenstand der Exegese zu machen, sondern um seine Reaktivierbarkeit in diskursiven Praktiken zu erproben, die das Subjekt an eine bestimmte Wahrheit binden.

Schriftkörper und Leseübung: Nietzsche als Stichwortgeber der Kulturwissenschaft

Claus Pias On the Epistemology of Computer Simulation

Der Aufsatz plädiert dafür, die Geschichte der wissenschaftlichen Computersimulation auf eine spezifisch medienhistorische Weise zu untersuchen. Nach einigen Vorschlägen zur Charakterisierung der Besonderheiten von Computersimulationen werden zwei Beispiele interpretiert (Management-Simulationen der 1960er und verkehrstechnische bzw. epidemiologische Simulationen der 1990er). Daraus leiten sich Fragen nach dem veränderten Status wissenschaftlichen Wissens, nach der Genese wissenschaftstheoretischer Konzepte und nach wissenschaftskritischen Optionen ab.

On the Epistemology of Computer Simulation

Eric Alliez Der Guattari-Deleuze-Effekt

Statt von einem Guattari-Effekt auf Deleuze muss man von einem Deleuze-Guattari-Effekt sprechen, um ein wechselseitiges Einwirken in einem gemeinsamem Projekt zu beschreiben, das mit dem Herausgehen aus der klassischen Psychoanalyse beginnt und in den Umbau der Philosophie in der Öffnung auf ihr Außen mündet. Dieser Umbau lässt das Paradigma der Interpretation ebenso hinter sich wie jenes der Struktur. In der Kritik an Lacan vollziehen Deleuze und Guattari die Abkehr vom Postulat des Primats der Sprache als Struktur und eines durch sie immer schon konstituierten und vom Realen ebenso wie von kollektiven Individuationsprozessen abgeschnittenen Subjekts. Die heterogenen Ausdrucksmaterien Hjelmslevs, die das Aufbrechen der Opposition von Sprachzeichen und Materie ermöglichen sowie die Konzepte der Wunschmaschine und mehr noch des Gefüges eröffnen den Weg hin zu einem Politisch-Werden der Philosophie als Wiederaneignung der Produktionsmittel kollektiver Subjektivität.

Der Guattari-Deleuze-Effekt

Michael Cuntz Kommentar zu "Die Existenzweise technischer Objekte" von Gilbert Simondon

"… Simondon stellt sich ganz explizit auf die Seite von industrieller Produktion, Standardisierung und Normierung. In dieser Standardisierung drohe gerade nicht der Verlust von Individualität, sondern erst in seiner durch die industrielle Produktion ermöglichte wie erforderliche Präzision verwirkliche das technische Objekt sein Wesen, gewinne es als System Kohärenz. …"

Kommentar zu "Die Existenzweise technischer Objekte" von Gilbert Simondon

Antoine Hennion Offene Objekte, Offene Subjekte. Körper, Dinge und Bindungen

Attachments do not belong to the vocabulary of action. Incommensurable and situational, they are at once constraining and indeterminate, deployed in bonds that all do something, but among which none is sufficient on its own. Instead of clear distinctions between dependent things and determining ones, we pass to the continuity of a less trenchant but infinitely more productive form of distributed action, a »faire faire« disseminated in networks. The essential then is not to liberate oneself but to sort the good attachments from the bad, by leaning not on grand overarching principals but on the immanent justice in things. But how can we decide upon the quality of attachment? Drawing from cases such as sportsmen, drug addicts, and music lovers, this contribution aims at clarifying what could be an ›attached‹ morality, a morality of examining trials, in which action and the criteria for action are found within one another from within the fibre of existing ties.

Offene Objekte, Offene Subjekte. Körper, Dinge und Bindungen

Peter Geimer Vorhang, Lampe, Sessel, Uhr. Auf der Suche nach den Dingen der Recherche

Das 1999 veröffentlichte Proust-Lexikon von Philippe Michel-Thiriet umfasst neben zahlreichen biographischen Daten ein »Lexikon der Personen in der Recherche« sowie ein »Lexikon der Orte der Recherche«. Es gibt jedoch kein Lexikon der Dinge der Recherche: kein Verzeichnis der Möbel im Salon von Madame Vinteul, keine Notiz zur »Feindseligkeit der violetten Vorhänge« im Hotel in Balbec, zum vergessenen Fächer der Königin von Neapel oder der Hängelampe im Eßzimmer von Combray. Gehören diese Dinge demnach nicht dazu? Handelt es sich um Uneigentliches, um Beiwerk oder Requisiten? Oder sind diese Objekte im Ordnungssystem eines Lexikons einfach nicht adressierbar? Aber warum? Der Beitrag geht diesen Fragen nach und versucht, den Gegenständen in À la recherche du temps perdu die gleiche Aufmerksamkeit zu schenken, die in der Regel nur den handelnden Charakteren des Romans gewidmet wird. Zugleich geht es um die Hinterlassenschaften, die von Prousts Existenz zurück geblieben sind und die gelegentlich mit Dingen im Roman identifiziert wurden. Aber wie kann ein reales Ding in einen Roman eingehen? Und findet es jemals wieder heraus?

Vorhang, Lampe, Sessel, Uhr. Auf der Suche nach den Dingen der Recherche

Anke te Heesen Objet sentimental

Eine kulturwissenschaftliche Perspektive formiert sich im Jahr 1979: Carlo Ginzburg führt den Begriff der Spurensicherung für das Arbeiten des Historikers ein. Daniel Spoerri und Marie Louise von Plessen initiieren in Köln das zweite Musée Sentimental, eine Ausstellung, die sich auf die Rekonstruktion vergangener Geschichten anhand von angeordneten Objekten stützt. Der Artikel richtet sein Augenmerk auf eine Ausstellungspraxis, die sich der Kulturtechnik des Spurenlesens verschreibt und aus der Hervorhebung des Alltäglichen erzeugt wird.

Objet sentimental

Stefan Höhne Tokens, Suckers und der »Great New York Token War«

Sowohl in den antiken Mythen des Übergangs der Toten in den Hades wie auch in der New Yorker Subway sind es kleine münzartige Artefakte, welche transitorische Praktiken und Subjekte entscheidend formen. Die zahlreichen Konflikte und Subversionen um diese Objekte offenbaren ihre Offenheit als konfiguriert durch die Gefüge, in denen sie sich bewegen. Versteht man also, was Gefüge sind und welche Wirkungen sie entfalten, erlaubt dies, die soziale Wirkmächtigkeit von Artefakten besser zu verstehen.

Tokens, Suckers und der »Great New York Token War«

Ute Holl Klang-Objekte zwischen Ding und Kreatur. Noten zum Eselsschrei in Robert Bressons AU HASARD BALTHAZAR

Der Ruf des Esels als offenes Klangobjekt in Robert Bressons Film AU HASARD BALTHAZAR (F 1966), der die Bild-Montage insistierend stört, wird in diesem Beitrag in den Kontext der Bioakustik gestellt. Am IA des Esels differenzieren sich Geräusche medial so aus, dass die Grenze zwischen Ding und Kreatur durchlässig wird. Bressons Passion erweist sich damit als Experiment, die akustischen Kanäle der Kommunikation als Transformatoren von Lebewesen, Räumen und jener Übertragung wahrzunehmen, die kybernetisch informierten Tierforschern Sprache heißt.

Klang-Objekte zwischen Ding und Kreatur. Noten zum Eselsschrei in Robert Bressons AU HASARD BALTHAZAR

Katrin Pahl Doublings and Couplings. The Feeling Thing in Valéry and Kleist

Via an analysis of Valéry's metalepsis and Kleist's hybrid aesthetics, this essay offers an account of feelings as ›open objects‹. Through doublings and couplings, Kleist's theater re-presents emotionality as ›the feeling thing‹ in the double sense of the thing that feels (a human body, for example) and the thing that feeling is (a dagger, for example): as an open, complex, and dynamic assembly of human and para-human actants that respond to their own self-incongruence.

Doublings and Couplings. The Feeling Thing in Valéry and Kleist

Uwe C. Steiner Actio, Narratio und das Gesicht der Dinge

Am Beispiel des Krugs und anderen, wandernden und tückischen Objekten der Literaturgeschichte soll die wechselseitige Voraussetzung von Offen- und Geschlossenheit in eine Konfiguration von Handlungstheorie, Figurationstheorie und Narratologie übersetzt werden. Die dabei verfolgte Frage lautet: Wie literarisch handeln offene Objekte? Nach Luhmann und Latour lässt sich das Handeln an Konzepte der Beschreibung koppeln: Sei es, dass sich Kommunikation zur Handlung simplifiziert und erst so einem Akteur zugerechnet werden kann, oder sei es, dass zeichenhafte Referenz, Zuschreibung und Protokollierung maßgebliche Stränge in dem Aktionszusammenhang menschlicher und nichtmenschlicher Wesen ausmachen. Solche Übersetzungen zwischen Erzählungen und Handlungen verfolgt dieser Beitrag anhand ausgewählter Beispiele aus der Literaturgeschichte.

Actio, Narratio und das Gesicht der Dinge