2015 | 1

Textil

Der Titel des Schwerpunkts der vorliegenden Ausgabe der ZMK kann sowohl ein Ding, ein Material oder eine Eigenschaft bezeichnen. Als Eigenschaftswort spezifiziert textil indes nicht nur bestimmte Künste näher und umfasst so die Weberei, die Stickerei, das Flechten, Knoten, Stricken, Häkeln, Wirken und vieles andere mehr, sondern neuerdings auch Medien. Die Rede von den »textilen Medien« zielt offenbar auf einen anderen Aspekt des Medienbegriffs als denjenigen, der von der Trias »Speichern, Übertragen, Verarbeiten« gebildet wird, nämlich auf das Material, nicht auf die Funktion. Nun kann man einerseits diesen Medienbegriff einfach, wie etwa im Bereich der Kunstgeschichte üblich, im Sinne der Materialität eines Bildträgers verstehen. Andererseits jedoch lenkt die Rede von den »textilen Medien«, indem sie die Materialität anstelle der Funktionalität betont, den Fokus auf eine spezifische Medialität des Textilen und darüber hinaus auf eine Medialität des Materials überhaupt. Eben darin liegt der Grund für die seit einigen Jahren zu beobachtende enorme Konjunktur des Textilen in so unterschiedlichen Bereichen wie der Kunst, der Kunstwissenschaft oder der Technik- und Sozialanthropologie.

Deswegen einen »textile turn« auszurufen, wie das manche Publizisten bereits getan haben, reduziert das Textile indes auf eine gegenwärtige Mode und lenkt von der Tatsache ab, dass das Textil seit der Antike eine kritische Denkfigur gewesen ist, die (etwa bei Homer, Platon, Pindar oder Ovid) als positives oder negatives Modell fungiert hat, nach dem der Plan oder die List (mêtis), die Kunst zu regieren, die Kunst des Erzählens oder die Kunst überhaupt als Gabe der Göttin Athene zu denken sei. Für Gilles Deleuze und Félix Guattari zum Beispiel fungiert das Gewebe in Mille Plateaux (1980) allgemein als »Modell der Technik«. Implizit erinnern sie damit an die Etymologie von »textil«, das auf das lateinische »texere« zurückgeht, das ebenfalls dem Wort »Technik« zugrunde liegt. Daran anschließend hat jüngst Tim Ingold dafür plädiert, den Begriff der Technik mit Deleuze und Guattari grundsätzlich nach dem Modell des Textils neu zu konzipieren und »textility« als technische Struktur zu begreifen, die jedem Herstellen (»making«) zugrunde liegt.

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Inhalt

Editorial Lorenz Engell, Bernhard Siegert

Über das Dokumentarische Harun Farocki

Bilder nehmen. Harun Farocki: »Über das Dokumentarische« Volker Pantenburg

Genäht oder gegraben, ephemer oder in die Erde versenkt. Divergente architektonische Modi der kollektiven Existenz Heike Delitz

Schwarze Lichter? Bild­logische Operationen bei Michelangelo und Matisse Wolfram Pichler

Archiv: Erotische Stoffleidenschaft bei der Frau Gaëtan Gatian de Clérambault

Archiv: Vom Weben als Beschäftigung für die Kranken Gaëtan Gatian de Clérambault

Kommentar zu den Texten "Erotische Stoffleidenschaft bei der Frau" und "Vom Weben als Beschäftigung für die Kranken" von Gaëtan Gatian de Clérambault Martin Stingelin

Bauen Knoten Verbinden Timothy Ingold

Textile Diagrams. Florian Pumhösl’s Abstraction as Method T’ai Smith

Sewing as Authority in the Middle Ages Kathryn Rudy

Klangteppiche. Trans­mediale Verhältnisse zwischen Weberei und Musik Birgit Schneider

Couleurs à la mode. Impressio­nism as an Effect of the Chemical Industry Wolf Kittler

Abstracts

Lorenz Engell, Bernhard Siegert Editorial

Textil: Der Titel des Schwerpunkts der vorliegenden Ausgabe der ZMK kann ein Ding, ein Material oder eine Eigenschaft bezeichnen. Als Eigenschaftswort spezifiziert textil indes nicht nur bestimmte Künste näher (den Begriff der textilen Kunst gibt es spätestens seit Gottfried Semper) und umfasst so die Weberei, die Stickerei, das Flechten, Knoten, Stricken, Häkeln, Wirken und vieles andere mehr (Semper zufolge auch die Anfänge der Baukunst), sondern neuerdings auch Medien.

Editorial

Harun Farocki Über das Dokumentarische

Die hier veröffentlichten Ausführungen »Über das Dokumentarische« wollen nicht begrifflich erläutern, was das Dokumentarische ist und was es vom Fiktiven unterscheidet, sondern was dem Film selbst als dokumentarisch gilt und wie das Dokumentarische filmisch hergestellt wird. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Spielfilm und Dokumentarfilm ist dabei der Unterschied zwischen einer antizipierenden und einer verfolgenden Kamera.

Über das Dokumentarische

Volker Pantenburg Bilder nehmen. Harun Farocki: »Über das Dokumentarische«

»Über das Dokumentarische« muss als die letzte Publikation des Regisseurs, Video- künstlers und Filmdenkers Harun Farocki gelten. Die Anmerkungen in »Bilder nehmen« verstehen sich als Kommentar dieses kurz vor Fertigstellung unterbrochenen Beitrags. Neben einer Rekonstruktion der Umstände und Hintergründe von Farockis Text werden einige der Besonderheiten seiner Perspektive auf den »dokumentarischen Effekt« herausgearbeitet, der sich besonders plausibel an spezifischen Kameragesten erläutern lässt.

Bilder nehmen. Harun Farocki: »Über das Dokumentarische«

Heike Delitz Genäht oder gegraben, ephemer oder in die Erde versenkt. Divergente architektonische Modi der kollektiven Existenz

Was für sozietale Effekte hat eine Zeltarchitektur, um welchen Modus der kollektiven Existenz handelt es sich bei nomadischen Gesellschaften wie den Tuareg? Und mit welcher imaginär instituierten Gesellschaft geht eine Architektur einher, die eine Nicht-Gestalt des Kollektivs erzeugt – wie die eingegrabenen Häuser im chinesischen Löss? In solchen Analysen zeigt sich die soziale Positivität von Architektur; und ex negativo auch, welches soziale Leben mit einer fixierten, infrastrukturierten Bauweise einhergeht.

Genäht oder gegraben, ephemer oder in die Erde versenkt. Divergente architektonische Modi der kollektiven Existenz

Wolfram Pichler Schwarze Lichter? Bild­logische Operationen bei Michelangelo und Matisse

In bestimmten Artefakten, die als ›Bilder‹ klassifizierbar sind, wurden so verdächtige Phänomene wie ›schwarze Glanzlichter‹ gesichtet, und es soll Gemälde geben, in denen Schwarz die Rolle einer ›Farbe des Lichts‹ übernimmt. Wer sich überzeugt hat, dass solche Erscheinungen tatsächlich nachweisbar sind, und herausbekommen möchte, durch welche Operationen sie hervorgebracht werden, sieht sich auf grundlegende bildtheoretische Unterscheidungen wie die Differenz zwischen Bildvehikel und Bildobjekt verwiesen.

Schwarze Lichter? Bild­logische Operationen bei Michelangelo und Matisse

Gaëtan Gatian de Clérambault Archiv: Erotische Stoffleidenschaft bei der Frau

Gaëtan Gatian de Clérambault (1872–1934) war ein französischer Psychiater, Ethnologe und Fotograf. Clérambault studierte zunächst Jura und angewandte Kunst, begann dann aber ein Medizinstudium, das er 1899 mit der Promotion abschloss. Von 1920 bis zu seinem Tod war er Leiter am Pariser psychiatrischen Polizeikrankenhaus (Infirmerie psychiatrique de la préfecture de police). Einer seiner berühmtesten Schüler war Jacques Lacan. Ausgewählte Veröffentlichungen: OEuvres Psychiatrique (1942), 2. Bde. (Paris 1987).

Archiv: Erotische Stoffleidenschaft bei der Frau

Gaëtan Gatian de Clérambault Archiv: Vom Weben als Beschäftigung für die Kranken

Gaëtan Gatian de Clérambault (1872–1934) war ein französischer Psychiater, Ethnologe und Fotograf. Clérambault studierte zunächst Jura und angewandte Kunst, begann dann aber ein Medizinstudium, das er 1899 mit der Promotion abschloss. Von 1920 bis zu seinem Tod war er Leiter am Pariser psychiatrischen Polizeikrankenhaus (Infirmerie psychiatrique de la préfecture de police). Einer seiner berühmtesten Schüler war Jacques Lacan. Ausgewählte Veröffentlichungen: OEuvres Psychiatrique (1942), 2. Bde. (Paris 1987).

Archiv: Vom Weben als Beschäftigung für die Kranken

Martin Stingelin Kommentar zu den Texten "Erotische Stoffleidenschaft bei der Frau" und "Vom Weben als Beschäftigung für die Kranken" von Gaëtan Gatian de Clérambault

Gaëtan Henri Alfred Edouard Léon Marie Gatian de Clérambault (1872 – 1934): Versuchen wir, in aller Kürze ein Leben zwischen den beiden hier präsentierten Texten aufzuspannen,1 das am 2. Juli 1872 in Bourges beginnt und am 16. November 1934 sein selbstgesetztes Ende, mit dem Clérambault dem Erlöschen seines Augenlichts zuvorkommt, in Montrouge findet. Erst nach zwei Jahren des Studiums an der Hochschule für angewandte Kunst in Paris, wo seine Gabe, »wunderbar zu zeichnen«, auffällt, beugt er sich 1890 dem Wunsch seines Vaters, eines Verwaltungsbeamten, und erwirbt 1892 ein juristisches Diplom, nur um gleich darauf gegen den Willen der Familie das Medizinstudium in Paris aufzunehmen, das er am 25. Oktober 1899 mit der Promotion abschließt. Er spezialisiert sich in der Folge, vorab in der Klinik Sainte-Anne, auf die Psychiatrie und macht ab 1902 Karriere an der »Infirmerie Spéciale des Aliénés de la Préfecture de Police de Paris«, der psychiatrischen Spezialklinik der Pariser Polizeipräfektur, deren Chefarzt er 1920 werden sollte. Zwischen 1905 und 1934 verfasst Clérambault hier über 13.000 psychiatrische Internierungsgutachten, eine Quelle, aus der 1908 (Fortsetzung 1910) auch die drei bzw. vier Beobachtungen von Fällen der »Stoffleidenschaft bei der Frau« geschöpft sind, die eine der frühesten psychiatrischen Fachpublikationen Clérambaults darstellen. ...

Kommentar zu Gaëtan Gatian de Clérambault

Timothy Ingold Bauen Knoten Verbinden

Der Beitrag greift Gottfried Sempers Perspektive auf, dass das Bauen wie das Textile ihren Ursprung in Praktiken des Knotens haben. Ein Vergleich des Knotens mit den vorherrschenden Metaphern des Bausteins, der Kette und des Behälters zeigt, wie sich das Knoten in die Bereiche des Materials, der Bewegung, der Wahrnehmung und der menschlichen Beziehungen einschreibt. Doch der Knoten verbindet Dinge ›miteinander‹, statt sie ›zusammenzufügen‹, eher durch Sympathie- als durch Gelenkverbindungen. Das führt zu einem Vergleich der tektonischen und stereotomischen Aspekte des Bauens, insbesondere der Mauer. Ist die Mauer auf dem Grund errichtet, wie der Wolkenkratzer, oder ist sie, wie der Berg, eine Falte im Grund selbst? Geht man vom Knoten aus, gelangt man zu letzterem Schluss.

Bauen Knoten Verbinden

T’ai Smith Textile Diagrams. Florian Pumhösl’s Abstraction as Method

»Abstraktion« ist für den Wiener Künstler Florian Pumhösl eine »Methode«, keine Kategorie. Oder vielmehr, wenn Abstraktion die bestimmende Kategorie der Moderne ist, dann ist das Ziel, die Probleme und Beschränkungen der Moderne zu reproduzieren und die Beziehungen zwischen ihren Elementen auszunutzen. Vor dem Hintergrund dessen, was Pumhösl den »Gewebekomplex« der Moderne nennt, untersucht dieser Beitrag das Werk des Künstlers und führt es mit Charles Sanders Peirces Diagramm-Konzept und Gottfried Sempers Einsatz von »textilen« Diagrammen in seinem Werk Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten eng.

Textile Diagrams. Florian Pumhösl’s Abstraction as Method

Kathryn Rudy Sewing as Authority in the Middle Ages

Dieser Essay betrachtet mittelalterliches Nähen im Licht von Austins Sprechakttheorie. Indem er Manuskripte, Reliquien, Ablässe und sogar die Mitra eines Bischofs analysiert, argumentiert der Artikel, dass Nähen eine Weise war, den rituellen Gebrauch der Objekte einzusetzen oder zu intensivieren – ob es sich nun um zeremonielle, devotionale, oder autoritative Zwecke handelte. Während ein Sprechakt durch seine Äußerung agiert, handeln Nähstiche, indem sie sichtbare und oft feierliche Verbindungen zwischen Materialien schaffen, um Autorität zu steigern, zu verschönern, zu behaupten und zu schichten – oder um einen Gegenstand in Textilien zu hüllen, als handelte es sich um eine Reliquie.

Sewing as Authority in the Middle Ages

Birgit Schneider Klangteppiche. Trans­mediale Verhältnisse zwischen Weberei und Musik

Ausgehend von der griechischen Mythologie werden die vielfältigen Beziehungen zwischen Singen und Weben, dem Flechttanz und den strukturellen Ähnlichkeiten von Notationsformen und Steuerungsprinzipien in Musik und Weberei ausgelotet. Es zeigt sich, dass das Verhältnis der Zeitkunst Musik und der Raumkunst Weberei weit über das hinausweist, was sich im bloß metaphorischen Sprechen von ›Klanggeweben‹ abzeichnet. Die Beziehung zwischen Kunstformen und Medien bringt vielmehr mythisch-spirituelle Ebenen zum Ausdruck. Die Umwandlung von Geweben in Musik respektive Musik in Weberei wiederum macht das kreative Potential der Transposition fruchtbar.

Klangteppiche. Trans­mediale Verhältnisse zwischen Weberei und Musik

Wolf Kittler Couleurs à la mode. Impressio­nism as an Effect of the Chemical Industry

Die Erfindung von Anilin und anderen synthetischen Farbstoffen in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts ist der Beginn einer neuen Epoche. Die von der noch jungen chemischen Industrie produzierten neuen Farben sind nicht nur leuchtender als die meisten der traditionellen Farbstoffe, sondern auch viel billiger. Sie verändern das Aussehen von Frauen auf den Straßen der modernen Stadt. Unter den ersten Medien, die diese Revolution bemerken und dokumentieren, sind Modezeitschriften, realistische Romane und impressionistische Gemälde. Der Beitrag zeigt, dass die strahlenden Farben der neuen Palette der impressionistischen Maler ein direkter Effekt der chemischen Industrie sind.

Couleurs à la mode. Impressio­nism as an Effect of the Chemical Industry